Virtuelle Kopie
Oftmals sind für die Hochschullehre relevante Objekte, wie archäologische Fundstücke oder technische Bauteile, nicht oder nur schwer zugänglich. Jedoch können sie als virtuelle Kopie, d.h. als digitales Abbild des Objekts, in Lehre und Studium eingebunden und für Lernende dadurch studierbar gemacht werden.
Kontext
Im Studium werden nicht nur abstrakte Inhalte und Theorien vermittelt, vielmehr findet Lernen auch in der Auseinandersetzung mit Objekten der physischen Umwelt statt. Unter anderem sollen Objekte „studiert“ werden, indem Lernende diese eingehend betrachten und dabei beispielsweise deren Aufbau und sichtbare Strukturen kennenlernen.
Problem
Physische Objekte sind – insbesondere für Lernkontexte – oftmals nicht oder nur mit hohem Aufwand zugänglich. In den eigenen Lernraum, etwa einen Seminarraum auf dem Campus oder das im Selbststudium genutzte Zuhause der Studierenden, lassen sich diese Objekte nur schwer oder gar nicht integrieren.
Rahmenbedingungen
- Unzugänglichkeit: Artefakte aus wissenschaftlichen Sammlungen (z.B. historische Dokumente oder naturwissenschaftliche Präparate), große Maschinen und Bauteile (z.B. Turbinen) und viele weitere für Studienzwecke interessante Objekte sind mitunter sehr wertvoll, empfindlich oder unhandlich und können in Studium und Lehre nicht oder nur schwer genutzt werden. Ebenso gibt es zahlreiche Objekte, die weltweit einmalig oder selten und somit für Studienzwecke von großem Interesse, aufgrund ihrer Seltenheit für Lehrende und Lernende jedoch nicht leicht zugänglich sind.
- Begutachtung im Detail: Zu Studienzwecken kann es gewünscht sein, Objekte sehr detailliert und aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten. Insbesondere für ein exploratives Vorgehen bzw. forschendes Lernen am Objekt sollte es Lernenden möglich sein, ein Objekt im Detail zu erkunden.
- Wiederholte Begutachtung: Für eine vertiefte Auseinandersetzung mit studienrelevanten Objekten benötigen Lernende einen längerfristigen und gegebenenfalls wiederholten Zugang zu diesen Objekten. So müssen für Bestimmungsübungen naturwissenschaftliche Präparate oftmals mehrfach begutachtet werden, um bestimmungsrelevante Merkmale sicher identifizieren und Präparate korrekt zuordnen zu können.
- Große Studierendengruppen: Soll ein Objekt mit einer größeren Anzahl von Studierenden erkundet werden, bleibt für den einzelnen Studierenden nur wenig Zeit für die Begutachtung. Und auch die parallele Arbeit in Gruppen ist mit einem einzigen Objekt nicht möglich.
- Zusammenstellung mehrerer Objekte: Wissenschaftlich interessante Objekte können Teil einer umfangreichen Gruppe von Objekten sein und sollen den Lernenden auch im Kontext dieser Gruppe zugänglich gemacht werden. Die Gruppenzugehörigkeit kann sich beispielsweise aus dem Entstehungskontext oder der Funktion des Objekts ergeben. Auch können Objekte für Lernzwecke nur für einen begrenzten Zeitraum gezielt als Gruppe zusammengestellt und betrachtet werden, wie z. B. mehrere Gemälde, die die stilistische Entwicklung eines Künstlers aufzeigen.
Lösung
Um Lernenden ein studienrelevantes Objekt zugänglich zu machen, wird eine virtuelle Kopie, also ein digitales Duplikat, des Objekts erstellt. Dieses kann entweder auf einem Bildschirm aus beliebigen Perspektiven betrachtet oder als dreidimensionale Kopie, beispielsweise mit einer VR-Brille, erlebbar gemacht werden.
Details
Die virtuelle Kopie eines Objekts kann im Rahmen einer Lehrveranstaltung gemeinsam betrachtet und durch die Lehrperson erläutert werden. Ebenso kann sie Lernenden aber auch orts- und zeitunabhängig zur Verfügung gestellt werden. So können Lernende studienrelevante Objekte allein oder in Kleingruppen selbstständig, etwa für die Prüfungsvorbereitung, nutzen und sich mit komplexen Lerninhalten, z. B. anatomischen Präparaten oder archäologischen Fundstücken, wiederholt auseinandersetzen.
Eine virtuelle Kopie kann in der Form der Darstellung durchaus variieren: von einzelnen Bildaufnahmen bis hin zu einer umfassenden Darstellung in 3D können den Lernenden gezielt verschiedene Perspektiven und Möglichkeiten zur visuellen Interaktion angeboten werden. Dadurch lässt sich die virtuelle Kopie nicht nur als Ersatz für das reale Objekt einsetzen, sondern sie kann dieses auch ergänzen, beispielsweise um eine vergrößerte und detailliertere Betrachtung zu ermöglichen. Wie bei einer Explosionsgrafik kann das Objekt auch in Einzelteile zerlegt dargestellt und einzelne Elemente in einer 360°-Perspektive sichtbar gemacht werden. Lernenden kann hierdurch das Wechselspiel zwischen einzelnen Elementen und dem Gesamtobjekt verdeutlicht werden.
Die virtuelle Kopie bietet nicht nur unterschiedliche Perspektiven auf das Lernobjekt, sondern lässt sich auch durch zusätzliche visuelle Informationen anreichern, die nach Bedarf ein- und ausgeblendet werden können. Hierdurch erhalten Lernende einen Mehrwert, der den Lernprozess unterstützen kann. So können beispielsweise einzelne Aspekte des Objekts durch farbige Markierungen für die Lernenden optisch hervorgehoben werden. Mit einblendbaren Infrarotaufnahmen des Objekts lassen sich Aspekte sichtbar machen, die bei Betrachtung im Tageslicht nicht sichtbar wären – wie etwa verborgene Farbschichten auf der Leinwand eines Gemäldes. Dem gleichen Prinzip entsprechend können ergänzend angebotene Röntgenaufnahmen den Blick in das Innere eines Objekts ermöglichen, z.B. in ein versteinertes Dinosaurier-Ei oder einen Sarkophag.
Wurde die virtuelle Kopie einmal erstellt ist sie vom Originalobjekt unabhängig – im Gegensatz zu einem digitalen Zwilling, der ebenfalls eine digitale Repräsentanz eines Objekts aus der realen Welt darstellt, dabei allerdings durch einen Daten- und Informationsaustausch mit dem Objekt verbunden ist und so eine Kommunikation zwischen realem Objekt und dessen digitalem Gegenstück erlaubt.
Stolpersteine
- Virtuelle Kopien sollten nicht in der Erwartung verwendet werden, dass sie einen vollständigen Ersatz für das Erleben des jeweiligen physischen Objekts in der realen Umwelt bieten können. Abhängig vom Stand der Technik bietet die virtuelle Kopie einen visuellen Eindruck des Objekts, spricht jedoch andere Sinne, beispielsweise die olfaktorische oder haptische Wahrnehmung, nicht an.
- Bei der Erstellung und der Nutzung virtueller Kopien sollte darauf geachtet werden, dass die virtuelle Kopie das jeweilige Objekt realistisch abbildet und beispielweise Farben sowie Oberflächendetails korrekt wiedergegeben werden.
- Von vielen Objekten können einzelne Lehrpersonen eigenständig keine virtuellen Kopien erstellen. Aufgrund zahlreicher Initiativen werden jedoch insbesondere wissenschaftliche Sammlungen zunehmend digital erschlossen und der Öffentlichkeit bzw. der Wissenschaft zugänglich gemacht. Und auch durch die Zusammenarbeit verschiedener Partner aus Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft entstehen immer häufiger virtuelle Kopien studienrelevanter Objekte, die ohne großen Aufwand von einzelnen Lehrenden in Lehrveranstaltungen eingebunden werden können.
- Die leichte Verfügbarkeit virtueller Kopien kann allerdings dazu führen, dass auf die Verwendung realer Objekte in der Lehre verzichtet wird und auch Exkursionen eingespart werden. Jedoch sollte die Entscheidung zur Nutzung einer virtuellen Kopie nicht allein aufgrund zeitlicher oder finanzieller Ressourcen, sondern insbesondere aus didaktischen Überlegungen heraus getroffen werden.
Vorteile
- Studierende und Lehrende erhalten durch virtuelle Kopien Zugang zu Lernobjekten, die ihnen in der realen Welt nicht zugänglich wären.
- Die Lernenden können physische Objekte als virtuelle Kopie eingehend betrachten und detailliert studieren, die sie ansonsten nicht oder nur kurz zu sehen bekommen würden.
- Durch virtuelle Kopien können Lernende eigenständig und wiederholt mit relevanten Objekten arbeiten, wodurch flexiblere Lehr- und Lernformate ermöglicht werden.
- Besteht ein Lerngegenstand aus einer Gruppe von Objekten, können einzelne, fehlende Objekte als virtuelle Kopie die Gruppe vervollständigen und so lernrelevante Zusammenhänge sichtbar machen.
Nachteile
- Der Erstellungsaufwand einer virtuellen Kopie kann – abhängig vom gewünschten Darstellungsformat – sehr hoch sein, da u.a. entsprechendes technisches Equipment sowie fachliches Know-how benötigt wird.
- Auch für die Wiedergabe virtueller Kopien, beispielsweise über 3D-Brillen, muss gegebenenfalls zunächst technisches Equipment beschafft werden, was mit hohen Kosten verbunden sein kann.
- Eine virtuelle Kopie gibt den Lernenden oftmals eine oder mehrere Perspektiven auf ein Objekt vor, beispielsweise indem für Bildaufnahmen ein bestimmter Blickwinkel oder Ausschnitt gewählt wird. Der Blick der Lernenden auf das Objekt wird dadurch immer gesteuert, auch wenn dies gar nicht gewünscht ist.
Beispiele
Mit der Lernplattform und App MyMi.mobile haben Studierende am Institut für Molekulare und Zelluläre Anatomie der Universität Ulm sowie an mehreren kooperierenden Hochschulen Zugriff auf virtuell mikroskopierbare, histologische Präparate. Die höchstauflösenden Präparate lassen sich bis in kleinste Details vergrößern, wichtige Strukturen werden ergänzend durch Infotexte erläutert. Hierdurch können mikroskopisch-anatomische Inhalte webbasiert erlernt werden. Die virtuellen Präparate werden von den Studierenden individuell zur Wissensaneignung und Prüfungsvorbereitung genutzt, kommen aber auch im Rahmen von Tutorien zum Einsatz.
Ein Beitrag mit mehreren Interviews auf e-teaching.org stellt die Lernplattform sowie deren Einsatz im Rahmen eines studentischen Prüfungs-Repetitoriums vor.
Aber nicht nur unbelebte Objekte, sondern auch lebende Organismen stehen Studierenden für Studienzwecke oftmals nicht zur Verfügung. Die digitale Lernplattform DigiTiB dient dem Kennenlernen und der korrekten Bestimmung heimischer Tierarten anhand morphologischer Merkmale. Im Rahmen einer Kooperation der Universitäten Greifswald und Darmstadt unter Mitwirkung des Digitalen Naturhistorischen Archivs Darmstadt e.V. (DiNArDa) entstehen neben einer umfangreichen Bilddatenbank auf DigiTiB auch 3D-Modelle, um Studierende bei der Vor- und Nachbereitung von Kursen zu unterstützen und ihnen die Bestimmung von Tierarten, ohne physisch zugängliche Präparate oder lebende Organismen, zu ermöglichen. Erstellt werden die 3D-Modelle mit dem als Open-Source-Projekt entwickelten Insektenscanner DISC3D.
Eine virtuelle Schausammlung von Mineralen, Erzen und Gesteinen hilft Studierenden an der RWTH Aachen University beim Erlernen geologischer Grundkompetenzen. Die Sammlung bietet 360°-Ansichten auf die virtuellen Exponate mit Detailansichten und Beschreibungstexten.
(© Christoph Jäckle/IWM Tübingen)
Neben speziell für die Hochschullehre entwickelten virtuellen Kopien bieten auch viele Museen und wissenschaftliche Sammlungen online Zugang zu virtuellen Kopien ihrer Ausstellungsstücke. Oftmals werden virtuelle Touren durch Ausstellungen angeboten, um die Objekte im Kontext anderer Ausstellungsstücke zu zeigen. Wechselnde Ausstellungen unterschiedlicher Museen können beispielsweise über die Digitale Kunsthalle des Zweiten Deutschen Fernsehens (ZDF) besucht werden und bieten so Zugang zu bedeutenden Kunstwerken. Das Deutsche Museum stellt in München tausende Objekte aus etwa 50 Bereichen der Naturwissenschaften und der Technik aus. Auf einem virtuellen Rundgang können viele Ausstellungsbereiche über die Webseite des Museums besucht und die Ausstellungsstücke betrachtet werden.
Im Projekt DigiMat werden am Leibniz-Institut für Wissensmedien (IWM) in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Schifffahrtsmuseum und Materialwissenschaftlern der Universität Bremen mit 2D- und 3D-Bildgebungstechniken Museumsartefakte digitalisiert, wobei mittels Röntgentomographie und Elektronenmikroskopie strukturelle, chemische und funktionale Eigenschaften der Objekte sichtbar gemacht werden. Abbildung 1 zeigt einen Pottwahlzahn mit Schnitzereien als Digitalisat auf einem Tablet, wo er in vergößerter Darstellung aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden kann. Die Abbildung wurde als Oberflächenmodell basierend auf Röntgendaten erstellt. Auf Abbildung 2 sind das Originalobjekt und das Digitalisat nebeneinander zu sehen.
(© Christoph Jäckle/IWM Tübingen)
Weitere Informationen
Der 2020 unter Creative-Commons-Lizenz erschienene Sammelband „Objekte im Netz - Wissenschaftliche Sammlungen im digitalen Wandel“ beinhaltet zahlreiche Beiträge aus Theorie und Praxis, die sich mit der Digitalisierung und Digitalität wissenschaftlicher Sammlungen beschäftigen. Die Publikation nimmt nicht nur die räumliche Perspektive (digitalisierter) wissenschaftlicher Sammlungen in den Blick, sondern thematisiert auch Aspekte wie digitale Strategien und Infrastrukturen, rechtliche und ethische Fragen des Zugangs zu Sammlungen sowie Datenkuration und Datenmanagement.