Standortübergreifendes Hybridseminar
Ein standortübergreifendes Hybridseminar kombiniert die Vorteile einer Online-Veranstaltung mit der produktiven Gruppendynamik einer traditionellen Seminardiskussion in physischer Präsenz. Dieses Format ist insbesondere für den interdisziplinären und internationalen Austausch geeignet.
Kontext
Zu akademischen Bildungsprozessen tragen eine Vielzahl an persönlichen Begegnungen in der Hochschule und ihrem räumlichen Umfeld bei. Insbesondere in der traditionellen Seminardiskussion kann der wissenschaftliche Diskurs in einem geschützten Raum des ergebnisoffenen Austauschs erprobt werden. Dafür sind eine Vielzahl von Gruppenprozessen von Bedeutung, die sich aus der Situation der physischen Präsenz ergeben.
Allerdings sollten Studierende auch die Gelegenheit haben, sich an einem lebendigen und multiperspektivischen Austausch zu beteiligen, der die Grenzen ihres Seminarraums, ihres Fachbereichs und ihrer Hochschule überschreitet. Der wissenschaftliche Austausch und die Vernetzung innerhalb des eigenen Fachs und über die Fachgrenzen hinweg sind für die Wissenschaft von zentraler Bedeutung und sollten bereits im Studium eingeübt werden.
Problem
Bei der Wahl ihrer Lehrveranstaltungen sind Studierende häufig auf die Arbeitsschwerpunkte der Dozierenden ihrer jeweiligen Hochschule beschränkt. Im gewählten Seminar ist die spezifische Expertise der jeweiligen Lehrperson auschlaggebend für das zum betreffenden Thema vorgesehene Spektrum des akademischen Austauschs. Über Online-Veranstaltungen besteht die Möglichkeit, in standortübergreifenden Lehrveranstaltungen einen interdisziplinären, multiperspektivischen Austausch zu organisieren, der vielfältige Wissensbestände berücksichtigt. Allerdings verzichtet man damit auf die vielfältigen Vorteile einer traditionellen Seminardiskussion.
Rahmenbedingungen
- Fachliche Expertise des Lehrpersonals: Die einzelnen Dozierenden einer bestimmten Hochschule haben ihre jeweils eigene spezifische (und entsprechend begrenzte) fachliche Expertise und Perspektive. Dozierende anderer Hochschulen verfügen wiederum über andere Expertisen, Forschungsschwerpunkte und gegebenenfalls auch disziplinäre Perspektiven.
- Perspektivenvielfalt im Studium: Studierende sollten sich mit unterschiedlichen Wissensgebieten und Forschungsperspektiven ihres Studienfaches befassen und sich mit möglichst vielen Facetten eines Forschungsproblems vertraut machen.
- Hochschulübergreifende Lehrveranstaltungen: Ein Seminar mit regelmäßigen Sitzungen in physischer Präsenz lässt sich nur sehr schwer mit Expertinnen und Experten sowie Studierenden unterschiedlicher Hochschulen organisieren.
- Grenzen von Online-Seminaren: In einem reinen Online-Seminar mit vielen Teilnehmenden sind die Möglichkeiten der Beteiligung der Studierenden an einem intensiven akademischen Austausch sehr begrenzt. Auch eine persönlich geprägte Betreuung der Studierenden durch die Lehrperson ist im Online-Seminar schwieriger als im Rahmen einer Präsenzveranstaltung.
- Gemeinsamer Wahrnehmungsraum: Gruppenprozesse im Präsenzseminar, die für einen offenen akademischen Austausch förderlich sind, basieren wesentlich auf einem gemeinsamen „Wahrnehmungsraum“ und der Möglichkeit gruppenbezogener Interaktionen, d.h. jede/r kann jederzeit mit jedem Gruppenmitglied Blickkontakt aufnehmen, man kann sich kurz mit dem Sitznachbarn oder der Sitznachbarin austauschen und es ergeben sich gruppendynamische akustische Reaktionen, die z.B. Zustimmung oder Unverständnis signalisieren (Tratschin, 2020).
- Weitere Vorteile von Präsenzveranstaltungen: Präsenzveranstaltungen sind außerdem wichtig, um in kleinen Gruppen neues Wissen zu vertiefen und es mit dem eigenen Vorwissen zu verbinden. Sie bieten Raum für informelle Kommunikation, sodass sich der soziale Austausch und die Kooperation zwischen den Studierenden vertiefen können.
Lösung
Dozierende unterschiedlicher Hochschulen organisieren gemeinsam und standortübergreifend ein synchrones, hybrides Seminar. In diesem Format versammelt sich an jedem Standort eine Gruppe von Studierenden gemeinsam mit einer Dozentin bzw. einem Dozenten in einem Seminarraum. Verbunden durch digitale Medien findet ein synchroner Austausch zwischen den beteiligten Standorten statt, der die Vielfalt der versammelten Expertisen und Perspektiven berücksichtigt. Der akademische Austausch wird in Offline-Phasen in kleineren Lerngruppen vertieft, die sich an den einzelnen Standorten in Präsenz versammelt haben.
Details
Für die Umsetzung dieses Seminarkonzepts bedarf es einer geeigneten technischen Infrastruktur und passender Räumlichkeiten. Die Ausstattung der Räumlichkeiten mit Kameras und Mikrophonen sollte so gestaltet sein, dass der Austausch zwischen den an den unterschiedlichen Standorten beteiligten Gruppen reibungslos funktioniert. Außerdem ist ein Videokonferenzsystem und gegebenenfalls auch ein Lernmanagementsystem für die standortübergreifende Zusammenarbeit (z.B. in Arbeitsgruppen) erforderlich. Genauere Vorschläge dazu finden sich u.a. in der Beschreibung Hybrider Video-Seminarraum.
Die Gestaltung der Zusammenarbeit der beteiligten Standorte und die Wahl der didaktischen Methoden sollte auf die Anzahl der beteiligten Standorte und die Größe der an den einzelnen Standorten versammelten Präsenzgruppen abgestimmt sein. Die Interaktion zwischen den beteiligten Standorten lässt sich im Hybridseminar auf vielfältige Weise ausgestalten. So besteht entweder die Möglichkeit eine wechselnde Seminarleitung zu organisieren oder die Gesamtseminarleitung einem Standort zu übertragen. Für die Kombination von Online- und Offline-Aktivitäten sind – je nach didaktischer Zielsetzung und organisatorischen Möglichkeiten – vielfältige Varianten denkbar. In diesem Seminarformat können vielfältige didaktische Methoden zum Einsatz kommen, wie beispielsweise lokale Gruppenarbeit und standortübergreifende Gruppenarbeit, Video-Diskussion mit einem moderierten Chat oder Audience-Responce-Systeme. Für die Studierenden kann auch die Zuschaltung externer Expertinnen und Experten im Rahmen von hybriden Gastvorträgen im Seminar sehr gewinnbringend sein.
Stolpersteine
- Die Gestaltung der Prüfungen bzw. Leistungsanforderungen kann in diesem Format eine Herausforderung sein – gegebenenfalls müssen etwa unterschiedliche Curricula der beteiligten Studiengänge berücksichtigt werden und es stellt sich die Frage nach der Gewichtung der Beurteilung von Online- und Offline-Arbeit.Hilfreich können in diesem Fall unterschiedliche Anforderungslevel sein, die im Vorfeld der Lehrveranstaltung gemeinsam definiert werden.
- Die Umsetzung einer solchen Lehrveranstaltung ist abhängig von einer geeigneten und zwischen den beteiligten Hochschulen kompatiblen technischen Infrastruktur. Die erforderliche Kompatibilität betrifft insbesondere die verwendeten Videokonferenz- und Lernmanagementsysteme.
- In einer interdisziplinären Lehrveranstaltung kann die Kommunikation eine Herausforderung darstellen. So muss beispielsweise besonders darauf geachtet werden, dass Fachbegriffe geklärt werden oder disziplinär unterschiedliche Bedeutungen bestimmter Begrifflichkeiten hinreichend behandelt werden. Insbesondere die Offline-Arbeitsphasen der einzelnen am Seminar beteiligten Standorte bieten hier die Möglichkeit, gemeinsam bearbeitete Inhalte spezifisch für den eigenen Studiengang bzw. die jeweilige Studierendengruppe fachlich einzuordnen und zu diskutieren.
- Wenn das standortübergreifende Seminar auf internationaler Ebene geplant wird, müssen gegebenenfalls unterschiedliche Zeitzonen bei der Terminplanung berücksichtigt werden.
Vorteile
- Es können die Vorteile lokaler und standortübergreifender Interaktion bzw. von Online-Veranstaltungen und Seminarsitzungen in physischer Präsenz miteinander kombiniert werden.
- Vielfältige Facetten eines Themas können behandelt werden.
- Studierende können auf unkomplizierte Weise kontinuierlich mit unterschiedlichen Expertinnen und Experten ihres Faches in Austausch treten, ohne dafür reisen zu müssen.
- Weitere Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis (auch aus dem Ausland) können ohne allzu großen organisatorischen Aufwand zu einzelnen Sitzungen eingeladen werden.
- Der bzw. die Dozierende am jeweiligen Standort kann in den Offline-Phasen standortspezifische Themen und Fragen, ebenso wie unterschiedliche Wissensstände innerhalb der Lerngruppe adressieren.
- Es können vielfältige Formen der Interaktion (z.B. Gruppenarbeiten) in verschiedenen Konstellationen von persönlich anwesenden und/oder online miteinander verbundenen Personen realisiert werden.
- Es können auch praktische Übungen gut integriert werden.
- Von diesem Format können insbesondere kleine Fachbereiche profitieren, die oftmals mit dem Problem konfrontiert sind, dass sie nicht zum gesamten Spektrum des betreffenden Faches Lehrveranstaltungen anbieten können.
- Es können sowohl der interdisziplinäre als auch der internationale Austausch gefördert werden.
- Dieses Format kann auch an die spezifischen Bedarfe von Hochschulen mit mehreren Standorten angepasst werden, die Seminare unter Beteiligung mehrerer Standorte und Fachbereiche umsetzen möchten.
Nachteile
- Der Vorbereitungs- und Abstimmungsaufwand für die Lehrenden ist relativ hoch, denn die Zusammenarbeit der beteiligten Standorte bedarf einer sorgfältigen Planung und Organisation. Dies betrifft die Inhalte, die didaktischen Ziele und die allgemeinen Rahmenbedingungen (insbesondere die Struktur der einzelnen Sitzungen, die Prüfungen, die Zielgruppe und gegebenenfalls die Voraussetzungen für die Teilnahme).
- Die technischen Voraussetzungen sind relativ hoch. Unabdingbar ist ein Arbeitsraum – idealerweise ein hybrider Video-Seminarraum – der insoweit mit Kameras und Mikrophonen ausgestattet ist, dass die Kommunikation zwischen den beteiligten Standorten gut funktioniert.
Beispiele
Seit 2016 wurden mehrfach standortübergreifende Seminare zu Friedens- und Konfliktforschung an neun Hochschulstandorten in Deutschland durchgeführt. Für die synchronen Seminarsitzungen werden Studierende und Lehrende über ein Videokonferenzsystem zusammengeschaltet. Die Studierenden bereiten sich mit Videos, Texten und weiteren Materialien auf die Sitzungen vor und können dann in den Sitzungen mit ebenfalls zugeschalteten internationalen Expertinnen und Experten diskutieren.
An der Technischen Universität Dortmund und der Universität Siegen wird eine synchrone, hybride Vorlesung zum Thema „Flavour Physics in Experiment and Theory“ angeboten, mit der Möglichkeit, von beiden Standorten aus Fragen zu stellen.
Um ihren Studierenden auch in einem stark spezialisierten Masterstudiengang das gesamte Themenspektrum des Spezialgebietes zugänglich zu machen und den Austausch mit Expertinnen und Experten anderer Universitätsstandorte zu ermöglichen bieten die Universitäten Bamberg, Berlin und Trier im gemeinsamen Masterstudiengang „Master in Survey Statistics“ standortübergreifende Seminare und Vorlesungen per Videokonferenzsystem an.