Entstehungsprozesse dokumentieren

Im Rahmen studentischer Projekte sind nicht nur die Ergebnisse, sondern z. B. auch die Entstehungsgeschichte, der Entwicklungs- und Entscheidungsprozess von Bedeutung. Durch regelmäßige Fotoaufnahmen, Screenshots und das Speichern unterschiedlicher Dokumentenversionen können Studierende ihre Arbeitsweise dokumentieren und über den eigenen Lernprozess reflektieren.

Kontext

Während studentischer Projektarbeiten entstehen viele Artefakte, z.B. Mindmaps, Ideensammlungen, Versuchsaufbauten, Prototypen, Skizzen, Texte usw. Am Ende des Projekts wird jedoch meist nur das Endresultat gezeigt. Dabei werden alternative Ansätze, Schwierigkeiten, Lernmomente und Entscheidungen meist nicht wieder aufgegriffen. Dies liegt auch daran, dass während des Entwicklungsprozesses im physischen Raum entstandene Konstellationen flüchtig sind, z.B. die Anordnung von Klebenotizen oder Tafelanschriebe. 

Problem

Ohne Einblicke in den Entstehungsprozess wird nur das Ergebnis studentischer Projektarbeiten geteilt. Wichtige Lernmomente werden dagegen nicht dokumentiert. Dies erschwert einerseits die Bewertung der Leistungen, da der Entstehungsprozess intransparent ist. Zum anderen können Studierende nichts aus den Erfahrungen der anderen Gruppen lernen, wenn sie nur das Ergebnis sehen. 

Rahmenbedingungen

  • Alternativen dokumentieren: Bei der Entwicklung von Lösungen oder dem Erstellen eines Forschungsplans sollten Studierende nicht die erstbeste Idee verwenden, sondern auch Alternativen in Betracht ziehen. Wenn das Dokumentieren von Alternativen zur Aufgabenstellung gehört, dann müssen zwangsläufig verschiedene Optionen gefunden werden.
  • Entscheidungen dokumentieren: Wenn mehrere Alternativen existieren, dann muss die Gruppe diese gegeneinander abwägen und sich für eine Option entscheiden. Dieser Diskurs ist ein wichtiger Lernmoment und sollte dokumentiert werden.
  • Vorgehensweise dokumentieren: Für die Nachvollziehbarkeit des Entstehungsprozesses einer Lösung sollten die einzelnen Schritte festgehalten werden. Dies ist sowohl für die Dokumentation des Projekts als auch für die Präsentation (z.B. vor einem Publikum) notwendig.
  • Erfolgreiches Scheitern: Beim Ausprobieren von Lösungsansätzen und der Umsetzung von Plänen oder gedanklichen Strukturen ist es ganz normal, dass es auch Sackgassen gibt. Durch das Aufzeichnen von frühen Ideen oder Lösungsansätzen können verworfene Ansätze dokumentiert werden. Dies ist einerseits hilfreich, um die gleichen Fehler nicht erneut zu machen – dann wird ein gescheiterter Versuch zu einem Lernmoment. Zum anderen wird dokumentiert, wie intensiv die Gruppe gearbeitet und sich auf Lösungssuche begeben hat.
  • Motivation: Wenn Studierende wissen, dass auch fehlgeschlagene Versuche, Lösungen, Aufbauten, Designs, Prototypen usw. einen Leistungsbeitrag innerhalb des Projekts darstellen, sind sie motivierter, Dinge auszuprobieren.
  • Flüchtigkeit: Beim Arbeiten mit haptischen Materialien (z.B. Whiteboards, Klebenotizen, Versuchsaufbauten) verändern sich deren Zustände im Laufe der Zeit: Whiteboard-Inhalte werden ergänzt, Klebenotizen umstrukturiert usw. Alte Zwischenstände sind dann nicht mehr verfügbar. Die Gruppe kann also nicht ohne weiteres frühere Ergebnisse aufgreifen.
  • Niedrigschwellige Reflektion: Durch das Aufzeichnen von Zwischenständen können Studierende leichter über den Lern- und Entwicklungsprozess reflektieren. Dieser Gedanke wird auch in Lernportfolios von Studierenden aufgegriffen. Diese können jedoch schnell zu umfangreich werden, wenn der gesamte Entwicklungsprozess festgehalten werden soll.
  • Einfaches Capturing: Smartphones und Kamerasysteme erlauben Momentaufnahmen in hoher Bildqualität. Doch oft vergessen Studierende rechtzeitig oder häufig genug Aufnahmen zu erstellen. 

Lösung

Studierende erhalten bei der Projektarbeit die explizite Aufgabenstellung, den Entwicklungsprozess visuell zu dokumentieren. Dies kann durch regelmäßige Fotoaufnahmen, Screenshots und das Speichern unterschiedlicher Dokumentenversionen geschehen. Das regelmäßige Aufzeichnen des Projektfortschritts kann z.B. durch die Wecker- oder Kalenderfunktion des Smartphones organisiert werden. Der Projektfortschritt kann live einsehbar sein (z.B. in einem Blog, durch eine Fotostory auf einer Fotocommunity oder das Hinzufügen von Fotos auf einem Online-Whiteboard). Zudem können die Aufnahmen am Projektende für die Präsentation und Dokumentation verwendet werden. 

Details

Die Lerngruppe muss sich gemeinsam mit der Lehrperson darauf einigen, welche Öffentlichkeit sie für ihre Prozessdokumentation wählt. Die Aufnahmen können z.B. nur für die dozierende Person in der Dokumentation verwendet werden. Die nächste Stufe wäre das Teilen mit anderen Studierenden, z.B. im Rahmen einer Präsentation. Bei der Verwendung im Rahmen öffentlicher Präsentationen oder Ausstellungen findet die Präsentation weiterhin im geschützten Kontext der Hochschule statt. Beim Teilen auf öffentlich zugänglichen Blogs oder Fotoplattformen kann hingegen die ganze Welt auf die Inhalte zugreifen.

Die Dokumentation des Entstehungsprozesses ist sehr vorteilhaft, wenn die Ergebnisse hochschulöffentlich oder gegenüber einer weiteren Öffentlichkeit präsentiert werden sollen. Ergebnisse können z.B. auf digitalen Postern oder in einer digitalen Vitrine ausgestellt werden. Neben dem entstandenen Resultat kann der Entwicklungsprozess durch kommentierte Bilder, Folienpräsentationen oder Videos aufgezeigt werden.

Bei der Dokumentation der Arbeitsschritte in einem Blog haben andere Studierende die Möglichkeit, ggf. sogar noch während des laufenden Entstehungsprozesses, Kommentare und Feedback zu geben. Dieser Ansatz kann dann bereits zu einem Lernportfolio ausgebaut werden.

Für Projekte, bei denen ein physisches Objekt entsteht, kann auch eine festinstallierte Kamera eingesetzt werden, die regelmäßig Aufnahmen erstellt. Dies erlaubt, die Aktivitäten später im Zeitraffer darzustellen. Gerade für die Präsentation in einem größeren Rahmen, z.B. in einer hybriden Ausstellung, lohnt sich dieser Aufwand. Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass durch die automatischen Aufnahmen nicht die Privatsphäre der Studierenden beeinträchtigt wird. Die Kamera muss also so aufgestellt sein, dass sie die entstehenden Artefakte aufzeichnet und nicht die Personen. Sollten Personen aufgezeichnet werden (z.B. zur Dokumentation von Rollenspielen oder Situationen), so müssen alle Studierenden mit der Verwendung einverstanden sein.

Beim Einfügen von Fotos auf einem Online-Whiteboard oder beim Veröffentlichen einer Foto-Story können Studierende die einzelnen Arbeitsschritte sofort mit Erklärungen und Annotationen versehen. 

Stolpersteine

  • Das Dokumentieren der verschiedenen Arbeitsschritte und alternativer Ansätze dient auch der Reflektion über den Entstehungsprozess. Studierende sollten daher nicht nur die Bilder verwenden, sondern zumindest einige wichtige Meilensteine auch ausführlicher beschreiben.
  • Die Dokumentation des Entstehungsprozesses ist aufwändig und sollte deshalb als explizite Aufgabenstellung nur dann eingefordert werden, wenn sie didaktisch sinnvoll in eine Lehrveranstaltung eingebunden und im Lernprozess regelmäßig aufgegriffen wird.

Vorteile

  • Es wird auf Seiten der Studierenden eine vertiefte Reflexion angestoßen, da einzelne Prozessschritte dokumentiert werden.
  • Studierende erhalten frühzeitig, ggf. bereits während des Entstehungsprozesses, Feedback, wenn die Aufnahmen live geteilt werden.
  • Die Lernerfahrungen aus dem Prozess werden mit anderen Studierenden geteilt.
  • Die Prozessdokumentation ist ein weiteres Artefakt, das zur Leistungsbeurteilung der Studierenden beitragen kann. Auch wenn aufgrund verschiedener Rückschläge in der Projektarbeit das Ergebnis nicht optimal sein sollte, können Projektgruppen durch die Dokumentation des Entstehungsprozesses ein hohes Leistungsniveau zeigen.
  • Die Aufnahmen können sehr gut für Präsentationen und Ausstellungen eingesetzt werden. 

Nachteile

  • Das Dokumentieren des Prozesses ist zusätzliche Arbeit.
  • Das Erstellen der Aufnahmen kann den Lernfluss oder die Diskussion unterbrechen.
  • Studierende sind gedanklich weniger frei, wenn sie das Gefühl haben, jeder ihrer Schritte wird dokumentiert.
  • Negatives Feedback zu noch nicht fertiggestellten Ergebnissen kann auch destruktiv sein. Wenn Einblicke in den Entstehungsprozess veröffentlicht werden, dann muss für alle klar sein, dass es sich noch nicht um das endgültige Ergebnis handelt. 

Beispiele

Im Rahmen des Projekts BAUHAUS 4.0 der weißensee kunsthochschule berlin und der TU Berlin erlernen Studierende in einer hybriden Lernumgebung, wie ein Roboterarm zum Ausgangspunkt für gestalterische Experimente und Produktentwicklung werden kann. Die Studierenden arbeiten in der Werkstatt mit dem Roboterarm und dokumentieren ihre Projektarbeit begleitend in einem E-Portfolio. Eine Besonderheit ist dabei die automatische Versuchsdokumentation in der Werkstatt: durch ein automatisches Uploading werden alle Versuche mit dem Roboter als Video, Programmcode und Verschlagwortung aufgezeichnet und dokumentiert. Ergänzend laden die Studierenden kuratiertes Material in Form von (analogen) Voruntersuchungen, Prozessüberlegungen, Fotos sowie Kommentierungen auf eine Dokumentationsplattform. Auf diese Weise werden die Versuche, Ergebnisse, Erkenntnisse und Fehler zusätzlich reflektiert und illustriert. Aus allen entstandenen Materialien werden anschließend Open Educational Resources (OER) für ein digitales Basiswissen im Prototyping erstellt. Diese stehen nachfolgenden Studierendenkohorten zur Weiterentwicklung zur Verfügung.

Einige Beispiele für eine niedrigschwelligere Dokumentation von Entwicklungsprozessen zeigen die nachfolgenden Bilder. So können physische Arbeitsergebnisse, wie Skizzen, kleinere Prototypen und Produkte aus Design-Sessions, gut mit der Smartphonekamera dokumentiert werden.

Fotoaufnahmen mit dem Smartphone
Fotoaufnahmen des Entwicklungsprozesses (Fotos: Christian Hahn (oben) und Christian Kohls (unten)/ TH Köln)

Studierende können auch durch Fotos bzw. durch Screenshots dokumentieren, wie sie an einem interaktiven Whiteboard oder auf einem geteilten Online-Whiteboard Konzepte entwickeln.

Studierende am interaktiven Whiteboard
Studierende am interaktiven Whiteboard (Foto: Christian Hahn/ TH Köln)