XR in der Lehre: Erfahrungen aus drei Projekten an der WU Wien

16.10.2024: Im Projekt Future Learning Experience (FLEX) wurde an der Wirtschaftsuniversität (WU) Wien ein Center geschaffen, das Raum und Umfeld für Experimente mit immersiven Technologien wie XR bietet. Ziel ist es, neue Lehrkonzepte und Einsatzszenarien zu entwickeln und zu erproben. Im Rahmen des FLEX wurden Pilotprojekte entwickelt, die als Best Practice und Inspiration für weitere Anwendungsbereiche der Universität dienen und die hier im Gespräch von Corinna Stiefelbauer und Dr. Andrea Ghonheim (WU Wien) vorgestellt werden: 360°-Szenarien zur Veranschaulichung von Lehr- und Lerninhalten, die Simulation eines Rhetoriktrainings in Virtual Reality und Icebreaker-Aktivitäten in einer Social Virtual Reality Umgebung.

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Virtueller Lehr- und Lernraum der WU Wien (© Mathias Dunst-Janko, WU Wien)

Hybrides Lehren und Lernen in Social Virtual Reality

Andrea Ghoneim: Im Rahmen des FLEX Projekts wurden Lehr- und Lernszenarien in Virtual Reality (VR) implementiert, an deren Entwicklung und Umsetzung du beteiligt warst. VR kann für die Simulation von realen oder fiktiven Umgebungen/Szenarien in dreidimensionalen Räumen genutzt werden. Nutzende können diese also betrachten und/oder mit der virtuellen Umgebung interagieren. Fördert das das aktive Lernen? Gibt es dafür Beispiele an der WU?

Corinna Stiefelbauer: Ja, beispielsweise werden in der Lehrveranstaltung „Grundzüge der Informations- und Kommunikationstechnologien” webbasierte XR-Technologien thematisiert, eingesetzt und reflektiert. Für einen möglichst praxisnahen Einblick begibt sich Michael Feurstein, der Leiter der Lehrveranstaltung, gemeinsam mit Studierenden auf Exkursion in eine webbasierte Social Virtual Reality Plattform. Studierende haben dabei die Wahl, ob sie die virtuelle Umgebung mit dem eigenen Laptop von zu Hause, aus dem Hörsaal oder mit einer VR-Brille im Lab der Universität betreten möchten. Das hybride Szenario zeigt den Studierenden die Potentiale der Technologie auf und gibt ihnen die Möglichkeit, diese eigenständig und aktiv zu erkunden. Die Studierenden begeben sich in eine fiktive virtuelle Umgebung, in der sie sich im Rahmen von moderierten Icebreaker-Aktivitäten auf einer anderen Ebene kennenlernen. Anschließend wird in einer Diskussion das Erlebte kritisch reflektiert, um Anwendungsmöglichkeiten von XR-Technologien für die künftige berufliche Praxis der Studierenden zu erörternund um über Risiken und Chancen zu sprechen. Besonders geschätzt wird bei diesem Format auch die Flexibilisierung des Studienalltags.

Andrea Ghoneim: Wie ist diese Exkursion aufgebaut und welche Erfahrungen wurden dabei gemacht?

Corinna Stiefelbauer: Die virtuelle Exkursion wurde im Wintersemester 2022/23 konzipiert und wird seitdem, basierend auf den Erfahrungen sowie der Evaluation, kontinuierlich weiterentwickelt. Dabei hat sich gezeigt, dass das Rechte- und Rollenmanagement innerhalb der Plattform sowie die Anleitung durch den Lehrveranstaltungs-Leiter wesentlichen Einfluss auf den Ablauf der Exkursion und die Wahrnehmung des Erlebten in der virtuellen Umgebung haben.

Zunächst erhielten die Studierenden maximalen Gestaltungsspielraum. Sie konnten die Umgebung mit ihren Avataren frei erkunden, miteinander interagieren und sich mit den dort bereitgestellten Informationen und Medien beschäftigten. Die Studierenden erhielten dabei nur punktuelle Anweisungen durch den Lehrenden. Das führte zu einem sehr freien, spielerischen Explorieren der Umgebung unter Einbeziehung aller Funktionen, wie etwa dem Platzieren von 3D-Objekten oder der Verwendung von Emojis. Die Studierenden waren mit ihren Avataren sehr viel in Bewegung und haben vor allem non-verbal miteinander und der Umgebung interagiert. Auf verbale Rückfragen des Lehrenden gab es allerdings nur wenige Wortmeldungen und Chatantworten. Unklar bleibt, ob die Ursache dafür auf die Anonymität durch die Verkörperung mittels Avataren oder auf technische Probleme zurückzuführen ist. Es zeigte sich, dass die Studierenden unsicher waren, ob sie beim Sprechen gehört werden, da Mimik und Gestik der Avatare nur sehr eingeschränkt abgebildet wurden. Dabei war zu beobachten, dass die Studierenden sehr schnell Handlungen aus der Realität auf die virtuelle Umgebung übertrugen, wie z.B. die Annäherung an einen Gesprächspartner, um besser gehört zu werden.

Später wurde der Ablauf kontrollierter gestaltet und Aktivitäten stärker moderiert. Der Ablauf der Übung wurde dadurch stärker gesteuert, war aber auch weniger explorativ. In der Evaluierung wurde deutlich, dass die Studierenden die Technologie unter diesen Bedingungen weniger euphorisch wahrnahmen und die Gestaltungs- und Einsatzmöglichkeiten zurückhaltender bewerteten.

Erfahrungen der Studierenden bei der virtuellen Exkursion

Im Rahmen der an die Exkursion anschließenden Diskussion wurde hinterfragt, ob Funktionen wie Memes oder Emojis sich auch störend auf eine Unterrichtseinheit in VR/XR auswirken könnten. Die Studierenden waren sich einig, dass spielerisches Verhalten nur entsteht, wenn dies die Übung erlaubt oder – wie in diesem Fall – sogar fördert. Es würde also keine Gefahr davon ausgehen, dass derartige Funktionen sich störend auf den Verlauf einer Lehrveranstaltungseinheit auswirken könnten. Anhand der Beobachtungsprotokolle, die über den Verlauf der Exkursion (über mehrere Semester hinweg) erstellt wurden, kann festgestellt werden, dass diese Einschätzung zutreffend ist.

Prinzipiell waren die Studierenden sehr schnell mit der VR-Umgebung vertraut, obwohl über 70% erstmalig eine derartige Umgebung besucht haben und kaum bis keine Vorerfahrung hatten.

Am Ende der Erkundungen im virtuellen Raum diskutierten die Studierenden im Rahmen der Lehrveranstaltung ihre Erfahrungen. Sie bewerteten es als positiv, dass sie im Rahmen ihres Studiums die Möglichkeit erhalten, als Gruppe ein Bewusstsein für derartige Technologien zu entwickeln. Außerdem sehen sie viel Potential für die Entwicklung von Virtual Reality Szenarien – vor allem durch technische Entwicklungsschritte hinsichtlich der Qualität der Grafik und dem Gewicht von VR-Brillen. Hinsichtlich detailreicher Grafik gab es aber auch kritische Stimmen. Ein Studierender merkte an, dass diese auch zu Ablenkungen führen kann – so war die Person bei einer Übung, die in einem virtuellen Wald stattgefunden hat, mit der Suche nach Vögeln in dieser Umgebung beschäftigt und konnte sich dadurch nicht auf die Übung konzentrieren. Auf der anderen Seite können Probleme mit der Technologie und/oder mit der Internetverbindung wie z.B. Bildausfälle und längere Ladezeiten ebenfalls zu Störungen der Lehr- und Lernerfahrung führen.

Ganz besonders schätzten die Studierenden die Verkörperung der eigenen Person durch einen Avatar. Sie bewerten diese Möglichkeit als positive Entwicklung, die ihnen die Gelegenheit gibt, vor allem bei Gruppenarbeiten realitätsnah miteinander zu interagieren. Wichtig ist ihnen dabei allerdings, das eigene Erscheinungsbild selbst zu bestimmen. Ein Studierender nannte dieses Phänomen „Vertretung durch Avatare“ und beschrieb, dass die Anwesenheit im Online-Unterricht auch visuell sichtbar wird und dies zu einer besseren Kommunikation untereinander führen kann. Von anderen wurde angemerkt, dass die Repräsentation durch einen Avatar mehr  Selbstsicherheit geben kann und dass man sich in der virtuellen Welt die Rolle, in die man schlüpft, aussuchen kann. Damit lässt sich diese Welt auch inklusiver gestalten: „Bisher konnte ich nur sein, wer ich bin. Jetzt kann ich sein, wer ich will.“ Es wurden aber auch kritische Fragen aufgeworfen, wie z.B.: Wie kann man feststellen, welche Person hinter einem Avatar steckt? Wie geht man, verkörpert durch einen Avatar, miteinander um? Gibt es in virtuellen Räumen eine Netiquette?

Virtuelle Lehr- und Lernräume der WU Wien
Virtuelle Lehr- und Lernräume der WU Wien (© Mathias Dunst-Janko, WU Wien)

Simulation eines Rhetoriktrainings in Virtual Reality

Andrea Ghoneim: Dies war eine Erfahrung mit einem Lehr-und Lernszenario, in dem eine virtuelle „Welt“ mit oder ohne VR-Brille erlebt werden konnte.  Gibt es an der WU auch Anwendungsszenarien für Lehr- und Lernziele, die sinnbringender über eine Simulation in einer VR-Brille implementiert werden können?

Corinna Stiefelbauer: Im Rahmen des Kurses „Effektiv präsentieren und überzeugend argumentieren" integriert der Lehrende Michael Posch eine Simulation von Präsentationssituationen in Virtual Reality. Dieses Präsentations- und Rhetoriktraining in VR wird von den Studierenden allein absolviert. Es ist Teil eines mehrstufigen Feedbackkonzepts, das in die Präsenzlehre eingebettet ist.  Das Lehrveranstaltungsdesign wird vom Lehrenden genauer im Atlas der guten Lehre beschrieben. Die Übung in VR wird automatisiert mit einer KI auswertet.

Im Rahmen klassischer Lehrveranstaltungen ist es oft schwierig, realistische Präsentationsszenarien zu simulieren und individuell Feedback zu geben. Die VR-Anwendung hilft den Studierenden, das Präsentieren vor unbekanntem Publikum und das sichere Reagieren auf kritische Zwischenfragen zu üben, um Unsicherheiten und Nervosität in vergleichbaren realen Situationen abzubauen.

Der Lehrveranstaltungs-Leiter betrachtet den Einsatz der Technologie als bereichernde Ergänzung. Der Mehrwert des Technologieeinsatzes resultiert vor allem aus der Kombination unterschiedlicher Übungs- und Feedbacksequenzen.

Andrea Ghoneim: Gibt es zu diesem Szenario auch Feedback von den Studierenden?

Corinna Stiefelbauer: Das Rhetoriktraining in VR wird bereits seit mehreren Semestern durchgeführt und regelmäßig evaluiert. Dabei hat sich gezeigt, dass eine Verbesserung von Präsentations- und Rhetorikfähigkeiten vor allem durch die Durchführung mehrmaliger Übungszyklen eingetreten ist. Die Studierenden betrachten dieses Training als sehr wertvoll für ihre persönliche Weiterentwicklung.

Für das Training wurde ein geschützter Rahmen geschaffen. Die Studierenden konnten ungestört und unbeobachtet in einem eigens zur Verfügung gestellten Raum mit der VR-Brille trainieren. Die vom System generierte Auswertung der Übung konnte anschließend von den Studierenden individuell abgerufen werden. Wichtig war den Studierenden, dass ihre Übungseinheit von niemandem beobachtet werden konnte und auch, dass die Ergebnisse nur von ihnen selbst eingesehen werden können. Da dies gewährleistet wird, wird das Anwendungsszenario als sichere Trainingsumgebung sehr geschätzt. Außerdem gaben die Studierenden auch hier an, dass sie stolz sind, an ihrer Universität im Rahmen einer Lehrveranstaltung eine derartige Möglichkeit zu haben.

Icebreaker-Aktivitäten in einer Social Virtual Reality Umgebung

Andrea Ghoneim: In virtuellen Räumen interagieren die Nutzenden wohl auch auf andere Weise miteinander als in Webkonferenztools wie MS Teams oder Zoom. Die WU hat im Rahmen der Hochschulallianz ENGAGE.EU auch einen Virtuellen Campus als Begegnungsraum, z. B. für das Kick-Off von Lehrveranstaltungen, geschaffen. Was sind die Vorteile solcher Räume?

Corinna Stiefelbauer: Die Interaktion in Social Virtual Reality Umgebungen ähnelt der in realen Räumen. Studierende von ENGAGE.EU hatten im Herbst 2023 und 2024 die Möglichkeit, sich zu Kursbeginn in einer webbasierten Social-Virtual-Reality-Umgebung durch spielerische Icebreaker-Aktivitäten kennenzulernen. Der dafür eingesetzte Virtual Campus ist eine dreidimensionale Umgebung auf einer virtuellen Plattform. Er wurde von der WU Wien eingerichtet und kann sowohl mit VR-Brille als auch ohne besucht werden. Am Desktop erfolgt die Bewegung über die Tastatur und die Umgebung wird via Browser-Bildschirm erlebt.

Bei ENGAGE.EU-Lehrveranstaltungen arbeiten Studierende von ihren unterschiedlichen Heimatorten bzw. -universitäten zusammen. Durch die Kick-Off Veranstaltung auf dem Virtuellen Campus können sie sich anhand moderierter Aktivitäten auf die Lehrveranstaltungen einstimmen. Studierende lernen dabei nicht nur einander, sondern auch virtuelle Räumlichkeiten kennen, die ihnen auch über den Verlauf des Kurses für Gruppenarbeiten und -treffen zur Verfügung stehen.

Auch diese Veranstaltungen wurden mittels Chat- und Beobachtungsprotokollen sowie anhand einer Umfrage evaluiert. Dadurch konnten wir sehen, dass die Studierenden sich sehr gut in der Umgebung zurechtfinden, die für fast alle neu ist. Vor allem die Möglichkeit sich zu bewegen und sich „physisch“ unter die Mitstudierenden zu mischen, wurde begrüßt. Eine Person antwortete auf die Frage, was sie künftigen Studierenden, die die Plattform zum ersten Mal nutzen, mit auf den Weg geben möchte: „Be ready to make international connections!" Sie betonte aber auch, dass jede und jeder selbst auf das Erlebte Einfluss nehmen kann und keine Scheu davor haben sollte, mit anderen zu interagieren. Eine weitere Person wies darauf hin, dass die Erfahrung maßgeblich von der eigenen Vorbereitung abhängig sei. Wer die bereitgestellten Ressourcen, wie z.B. Guidelines und Tutorial-Räume, nutzt, bewege sich sicherer in der Umgebung und hat vorab die Möglichkeit, technische Hürden wie die Auswahl des passenden Browsers zu überwinden. Es könnte in Erwägung gezogen werden, ein synchrones technisches Onboarding vorab aktiv anzubieten, damit alle Studierenden, unabhängig von ihrem Vorwissen, eine positive Erfahrung machen können.

Virtual Campus der WU Wien
Virtual Campus der WU Wien (© Mathias Dunst-Janko, WU Wien)

Learnings für die Entwicklung künftiger Lehrveranstaltungsformate in Social Virtual Reality

Generell gilt zu berücksichtigen, dass sich nicht jedes Lehrveranstaltungsformat für eine virtuelle Umgebung eignet. Für einen klassischen Lehrvortrag ohne Interaktion sind andere Kommunikationsformen sicher besser geeignet. Diese Einschätzung teilten auch die Studierenden. Bei jeder Planung sollte man sich die Frage stellen, ob das Anwendungsszenario mit der gewählten Technologie didaktisch sinnvoll umsetzbar ist.  Auch die technische Performance muss berücksichtigt werden, sonst lässt sich das durchdachteste Konzept nicht ohne Abstriche bei der Lehr- und Lernerfahrung umsetzen.

Eine weitere Erkenntnis, die wir gewonnen haben, ist, dass das Setting möglichst unter realitätsnahen Bedingungen getestet werden sollte. Werden technische Belastungstests oder Generalproben durchgeführt, ist es empfehlenswert, diese mit einer vergleichbaren Personenzahl wie bei der eigentlichen Veranstaltung durchzuführen. Für ähnliche Events im physischen Raum gibt es bereits zahlreiche Erfahrungsberichte, Tipps und Checklisten. Bei Veranstaltungen im virtuellen Raum hingegen muss vieles noch durch intensive Recherchen, den Austausch in Netzwerken, die Auswertung von Literatur oder in Diskussionen mit Kolleginnen und Kollegen kleinteilig erarbeitet werden. An der WU werden dazu kontinuierlich neue Szenarien und Lösungsansätze für das Lehren und Lernen in virtuellen Räumen entwickelt. 

Weitere Informationen zu den Projekten erhalten Sie auf der FLEX Webseite. Außerdem gibt es aus der WU Wien weitere Anwendungsszenarien in der Digital Learning Map, wie z.B.  zu interaktiven 360°-Videos zur Veranschaulichung von Lehr-und Lerninhalten.

Hintergrundinformationen bietet zudem folgende Publikation: Stiefelbauer, Ghoneim, Oberhuemer & Vettori (2023)

Beitragende

Andrea Ghoneim studierte und arbeitete (meistens in Österreich) stets am Schnittpunkt von Medien, Kultur und Lernen. Seit 2020 ist sie an der WU Wien in der Abteilung Digital Teaching Services tätig. Sie unterstützt in Projekten digitaler Lehr- und Lernbegleitung,
unter anderem im Rahmen der Universitätsallianz ENGAGE.EU (https://www.engageuniversity.eu/). Details und Publikationen: https://at.linkedin.com/in/andrea-ghoneim
Corinna Stiefelbauer arbeitet seit 2021 an der WU Wien in der Abteilung Digital Teaching Services. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt auf der Unterstützung Lehrender bei der Entwicklung und Umsetzung audiovisueller und immersiver Lehr- und Lernszenarien.

Weitere Informationen

Dieser Erfahrungsbericht ist Teil des Themenspecials XR in der Hochschullehre – was leisten immersive Technologien?.