Teach-R: (Weiter-)Entwicklung einer simulationsbasierten Trainingsumgebung für die Lehramtsausbildung
16.12.2025: Die VR-Trainingsumgebung Teach-R ermöglicht es Lehramtsstudierenden, schwierige Unterrichtssituationen im virtuellen Klassenzimmer zu erproben, bevor sie zum ersten Mal vor einer echten Schulklasse stehen. Die ursprünglich an der Universität Potsdam entwickelte Umgebung wird inzwischen an vielen weiteren Hochschulen eingesetzt und um neue Szenarien erweitert. Im Interview mit e-teaching.org geben Axel Wiepke (Universität Potsdam) und Birte Heinemann (RWTH Aachen) Einblicke in die Hintergründe des Projekts und sprechen über Herausforderungen sowie ihre nächsten geplanten Schritte.
Teach-R gibt es mittlerweile bereits seit sechs Jahren. Wie ist das Projekt gestartet und was waren die wichtigsten Entwicklungsschritte?
Axel Wiepke: An der Universität Potsdam haben wir 2018 begonnen, eine VR-Umgebung zur Unterstützung der Lehramtsausbildung zu entwickeln. Ursprünglich war dies eine meiner Projektarbeiten in der Informatik, nachdem ich zweieinhalb Jahre als Lehrer tätig war. Von dort brachte ich den Eindruck mit, dass die meist theoretischen Inhalte und Methoden aus dem Lehramtsstudium zwar relevant für meinen Unterricht waren, doch dass ich diese durch meine Überforderung mit der Situation im Klassenraum gar nicht richtig einbringen konnte. Daraus entstand mein Wunsch, ein Lernwerkzeug zu entwickeln, das diese erste Überforderung für neue Lehrer*innen etwas abmildern könnte. In der VR-Lernumgebung Teach-R können sie daher, bevor sie den ersten Kontakt mit einer realen Schulklasse haben, schon mit bis zu 30 virtuellen Schülerinnen und Schülern (vSuS) Unterrichtsmethoden trainieren. Das Vorhaben weckte auch Interesse in der Erziehungswissenschaft und sollte zunächst für das Gebiet des Klassenraummanagements genutzt werden. In den folgenden Jahren entwickelte sich das Teach-R-Projekt über mehrere Fachdisziplinen und Hochschulen hinweg als offene Plattform. Allem voran wurde glücklicherweise das Interesse der RWTH Aachen geweckt, womit Birte Heinemann schnell eine unverzichtbare Partnerin in punkto Entwicklung und Forschung wurde.
Birte Heinemann: Wir durften dann an der RWTH seit 2019 an dem Projekt Teach-R mitarbeiten und haben in einer Kooperation aus Lerntechnologinnen und Erziehungswissenschaftlern schnell weitere Lernsituationen identifiziert, die das Thema Unterrichtsstörungen ergänzen und für die wir die Applikation erweitern und einsetzen wollten. Doch zunächst gab es ein Problem bei der praktischen Einbindung – die Situation während der Corona-Pandemie hat verhindert, dass wir die VR-Simulation wirklich aktiv mit Lehramtsstudierenden einsetzen konnten. Trotzdem konnten wir schnell Informatikstudierende begeistern, die Applikation mit uns weiterzuentwickeln und die Grenzen und Potenziale auszuloten. Nach der Pandemie konnten wir dann endlich aktiver an die bis dahin eher theoriebasierten Entwicklungen anknüpfen. Seit der Gründung des „MediaLab Lehramt" im Jahr 2021 gibt es an der RWTH Aachen nun sogar eine zentrale Serviceeinrichtung, die uns beim Einsatz von Teach-R unterstützt. Im Laufe der Zeit konnten wir weitere Kooperationspartner in ganz Deutschland gewinnen. Die folgende Abbildung zeigt, wie Teach-R konzipiert ist.
Abb. 2: Nutzungsmodell von Teach-R: Studierende betreten die VR-Umgebung über eine VR-Brille und können sich dort real oder durch Teleportation bewegen. Eine Person kann als Coach*in die VR-Umgebung über eine Weboberfläche steuern, indem sie z. B. virtuelle Schülerinnen und Schüler (vSuS) aktiviert oder die Atmosphäre im Raum verändert. Außenstehende Peers können die Aktivitäten im virtuellen Raum über Beamer oder eine Videokonferenz verfolgen und ihre Beobachtungen in einer gemeinsame Auswertung im Anschluss einbringen.
Welche Rollen spielen die vielen Kooperationen für die Weiterentwicklung von Teach-R?
Axel Wiepke: Die Kooperationen haben sich mit der Zeit entwickelt. Zu Beginn, als Teach-R noch ein Studienprojekt war, gab es keine Notwendigkeit, sich um eine Finanzierung zu kümmern. Aber als dann immer mehr Dozierende auf das Projekt aufmerksam wurden und ihre Ideen einbrachten, wurde deutlich, dass das Potenzial des Projekts vor allem durch die multidisziplinären Perspektiven entfaltet werden kann. Dieses Potenzial ging jedoch auch mit der Herausforderung der Finanzierungen einher, die wir immer wieder durch gemeinsame Projekte adressierten. Die neuen Projekte boten daher neben mehr Ressourcen vor allem die Möglichkeit, Teach-R für neue Fächer aufzubereiten und weitere Partner einzuladen. Die Kooperationen begannen mit der Erziehungswissenschaft zum Erleben fachübergreifender Störungen, es folgten die Geschichtsdidaktik zum Training von Unterrichtsgesprächen, die Chemiedidaktik zum Experimentieren im Unterricht sowie die Romanistik zur Korrektur der Lernendensprache. All dies geschah an der Universität Potsdam und mündete in regelmäßig angebotenen Seminaren, in denen die Umgebung eingesetzt wurde. Parallel dazu überzeugte das Open-Source-Projekt auch Lehrende in Kiel, Mannheim, Berlin, Weingarten, Essen und Aachen.
Birte Heinemann: An der RWTH sind wir zunächst mit einem Projekt in die Welt von Teach-R gestartet. Die Aachener Exploratory Teaching Spaces sind Projekte, die das Ziel verfolgen, eine Plattform für kreative Ideen im Bereich Lehre zu schaffen. Durch die Finanzierung konnten wir Freiräume schaffen, um in die Entwicklung einzusteigen, weitere Ideen für Unterrichtsszenarien und Lernziele zu entwerfen, uns mit unseren Erziehungswissenschaftlern und den Kolleg*innen in Potsdam zu vernetzen – und dabei haben wir uns so sehr in das Projekt „verliebt", dass wir noch immer dabei sind.
Sie haben für verschiedene Unterrichtsfächer jeweils angepasste VR-Räume entwickelt. Warum haben Sie sich für solche klassischen Fachräume entschieden?
Axel Wiepke: Einige Fachdisziplinen benötigen spezielle Räume für ihren Unterricht. So ist es in der Chemie wichtig, schwer entflammbare Tische zu nutzen und Gashähne an jedem Tisch verbaut zu haben. Diese und andere Besonderheiten sollten dann auch in den VR-Räumen von Teach-R vorhanden sein. Die Räume werden hauptsächlich durch die beiden Teams von Frau Heinemann und mir mit verschiedenen Raumgrößen, Sitzordnungen und Ausstattungen entwickelt. Da das Training für Lehrkräfte gedacht ist, sollten die Räumlichkeiten visuell und auditiv möglichst ähnlich zur späteren Unterrichtspraxis sein. Das steigert die Transferierbarkeit der trainierten Verhaltensweisen und senkt den kognitiven Aufwand (cognitive load) der Lehrkräfte bei der späteren Orientierung im Klassenraum, da sie die Umgebung schon gewohnt sind.
Birte Heinemann: Dem Beispiel aus der Chemie folgend haben wir weitere Räume entworfen, die in vielen Schulen zu finden sind. Meine ehemalige Kollegin Melanie Margaritis hat mit ihrer Forschung zum Thema „Was ist Informatikunterricht?” den Anstoß gegeben, Informatikräume zu entwickeln und die Besonderheiten dieses Unterrichts erfahrbar und untersuchbar zu machen. In einem anderen Projekt haben wir mit mehreren Institutionen einen Medienraum entwickelt, um modernen mediengestützten Unterricht simulieren zu können. Hiermit schaffen wir auch Gesprächsanlässe, um mit angehenden Lehrkräften die Angst vor der Technik im Schulunterricht zu diskutieren.
Abb. 3: Geteilte Ansicht eines physischen Seminarraums und des virtuellen Chemieraums. Es ist erkennbar, dass die virtuellen und die physischen Tische miteinander kongruent sind, womit Studierende die virtuellen Tische scheinbar berühren können.
Mit den bisherigen Entwicklungen haben Sie inzwischen einen breiten Ausschnitt verschiedener Situationen im Schulunterricht abgebildet. Wonach wählen Sie aus, welche Szenarien Sie umsetzen?
Axel Wiepke: Begonnen hatten wir, wie beschrieben, mit dem Training von Klassenmanagement, da dieses breite Feld alle Lehrkräfte betrifft. Im weiteren Verlauf haben wir dann Prinzipien ausgewählt, die auch für andere Fächer erschließbar sind. In der Geschichtsdidaktik haben wir uns auf die spezifische didaktische Methode des impulsgesteuerten Unterrichtsgesprächs fokussiert. Dieses ist zwar von fachspezifischen Inhalten geprägt, kann jedoch in Struktur und Technik nachgenutzt werden, um auch weitere Fächer zu erschließen. Ähnliches gilt für die Seminarkonzepte der verschiedenen Fachdisziplinen, die virtuellen Räumlichkeiten und der immer vielfältigeren Funktionen und Animationen von Teach-R. Dabei geht natürlich jede Entwicklung mit einem gewissem Aufwand und spezifischen Herausforderungen einher.
Birte Heinemann: Der Aufwand für die Erweiterungen hängt stark von den Ideen und Vorstellungen ab – und bis zu einem gewissen Grad vom eigenen Perfektionismus. Meine Erfahrungen in der Lehre zeigen, dass viele Informatikstudierende Lust haben, an dem Projekt mitzuprogrammieren, an Praktika teilzunehmen oder in ihren Abschlussarbeiten einen Teil beizutragen. Der reale Einsatz der Applikation ist sehr motivierend für alle Beteiligten. Eine Schwierigkeit, die Axel Wiepke und ich immer wieder beobachten, ist es, die vielen Projektstränge zusammenzuhalten und Entwicklungen für verschiedene Systeme auf einen Stand zu bringen.
Sie haben bereits einige Herausforderungen im Zusammenhang mit Teach-R erwähnt. Könnten Sie uns noch einen kurzen Einblick geben, was (noch) nicht möglich ist? Welche Hoffnungen kann die Simulation nicht oder nur schwer erfüllen?
Axel Wiepke: Die simulationsbasierte Lehre und im Speziellen Teach-R geht damit einher, eine konkrete Situation zu modellieren und dieses Modell in die VR-Simulation zu übersetzen. Dadurch kann eine Verhaltensweise der vSuS nur dann in der Simulation auftauchen, wenn ein theoretisches Modell das Verhalten vorhersagt und rechtfertigt. Dieses Vorgehen deckt aber natürlich nicht alle möglichen Szenarien ab. So bekam ich einmal bei der Vorführung der Umgebung ein Feedback eines Berufsschullehrers, der sagte: „Wenn am Ende der Stunde keiner der Schüler irgendwo hingespuckt hat oder blutet, war das für mich erfolgreicher Unterricht.” Solche Vorfälle mögen zur authentischen Erfahrung von Lehrkräften gehören, aber sie sind sicher auch Extremfälle. Wir bei Teach-R versuchen, Erfahrungen aufzugreifen, die viele Lehrkräfte in ihrem Alltag teilen und so die Studierenden zu unterstützen, mit klassischen Situationen besser umzugehen.
Eine weitere Rückmeldung erreichte mich, während ich einen Schülerpraktikanten bei uns betreuen durfte, der 3D-Modelle für Teach-R designte. Als die betreuende Lehrerin zu einem Besuch vorbeikam, sah sie sich bereits zum zweiten Mal mit Teach-R konfrontiert, da sie in meiner ersten Studie der Geschichtsdidaktik Probandin war. Sie erinnerte sich an das große Potenzial der Anwendung, aber vor allem erinnerte sie sich an die Notwendigkeit, vor Ort sein zu müssen. Auch heute geht die Nutzbarkeit von VR-Anwendungen noch oft damit einher, dass Teilnehmende nicht die benötigte Hardware zuhause haben, womit es eine implizite Anwesenheitspflicht für den Seminarraum gibt. Durch diese Pflichtanwesenheit hatte die damalige Probandin Teach-R leider nicht nur in angenehmer Erinnerung.
Eine letzte Herausforderung des Projekts möchte ich noch nennen. Ein oft genannter Vorteil von Virtual Reality ist das Gefühl, sich tatsächlich in dem dargestellten Szenario zu befinden. Durch verschiedene Umstände kann es aber dazu kommen, dass dieses Gefühl nicht erreicht wird. Ein solcher Umstand kann es sein, dass die visuelle Darstellung der VR mit der Idealvorstellung einer realen Welt verglichen wird und jegliche Abweichung zu einer Distanzierung des VR-Raums einhergeht. So merkten Proband*innen an, dass die Zähne einer virtuellen Schülerin schief wären, dass die Augenfarbe eines virtuellen Schülers nicht zur Hautfarbe passt oder dass die Namensschilder in der hintersten Reihe schlecht zu lesen wären. All diese und ähnliche Anmerkungen sind für mich deshalb spannend, weil sie in einem realen Klassenzimmer auch erfahren, aber nie benannt werden würden. Andere, offensichtlichere und unrealistische Darstellungen bzw. Erfahrungen werden währenddessen aber einfach akzeptiert, z. B., dass man die eigenen virtuellen Hände über Knopfdruck schließt oder mittels Joysticks die "Superkraft" der Teleportation erhält. Ich gehe davon aus, dass sich solche Herausforderungen mit der Zeit durch weitere Entwicklungen im Bereich VR von allein lösen oder durch eine breitere Akzeptanz der Technologie an Relevanz verlieren. Das könnte durch beispielsweise mit einer steigenden öffentlichen Aufmerksamkeit für VR-Technologien einher gehen, die dann auch deutlich macht, in welche Richtung sich die Technik weiterentwickeln muss , etwa fortschreitende Standardisierungen, höhere Verfügbarkeit durch geringere Preise oder ergonomischere Hardware.
In Seminaren oder Workshops mit Lehrkräften haben Sie inzwischen umfangreiche Erfahrungen gesammelt. Welches Feedback haben Sie von Lehrkräften und Studierenden zu der Applikation und Lernzielen erhalten? Wie hat dieses Feedback die weitere Entwicklung beeinflusst?
Birte Heinemann: Aus meiner Perspektive ist es sehr spannend zu sehen, dass die Simulation so eingesetzt wird, wie ich mir eine gute Open Educational Ressource (OER), also eine offene Bildungsressource, vorstelle. Viele Lehrende nutzen die Simulation intuitiv passend zu ihren Lernzielen und ihren Lernkontexten. Die konkreten Einsatzszenarien sind vielfältig, manchmal konzentrieren sich Lehrende auf eine einzelne Intervention oder Teach-R wird mehrmals in einer Veranstaltung eingesetzt. Manche Universitäten bzw. Lehrenden nutzen es in Eins-zu-eins-Umsetzungen, bei denen die Dozierenden jeweils mit einzelnen Studierenden arbeiten. Andere nutzen Teach-R mit Kleingruppen oder sogar mit der ganzen Seminargruppe. Und genau das spiegelt sich auch in dem Feedback wieder, das wir bekommen. Dieses Feedback beeinflusst auch die Weiterentwicklungen, die wir so gestalten wollen, dass gewisse Freiheitsgrade in der Nutzung bleiben.
Neben der direkten Arbeit mit den verschiedenen Lehrenden stehen wir weiterhin im ständigen Austausch mit dem Arbeitskreis VR/AR-Learning der Gesellschaft für Informatik (GI). Über diesen wurden sowohl technische Hinweise als auch Kooperationsmöglichkeiten an uns herangetragen. Außerdem haben wir in verschiedenen Studien quantitatives Feedback von Studierenden, Lehrkräften und Dozierenden erhalten. Die Ergebnisse der Studien können gern in unserer Literatur nachgelesen werden. Auch an Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung, z. B. hier in Aachen, wurde Teach-R bereits erfolgreich eingesetzt und auch von dort haben wir dankenswerterweise hilfreiches Feedback erhalten.
Was sind die nächsten Schritte für Teach-R?
Axel Wiepke: Alles in allem sind wir offenbar auf einem sehr guten Weg, denn das Interesse an der Nutzung von Teach-R steigt stetig. Die Nachfrage ist mittlerweile so groß, dass wir neben der Dokumentation auch Videos und ganze Workshops anbieten, die beim Onboarding, bei der ersten Nutzung oder der Individualisierung unterstützen. Je nachdem, wieviel Vorerfahrung mitgebracht wird, können Interessierte komplett autark eigene Seminare mit Teach-R gestalten. Die Teach-R-Community hilft gerne bei technischen oder organisatorischen Schwierigkeiten. Für uns wäre es wundervoll, wenn Teach-R auch weitere lehrkraftbildende Hochschulen erreicht und wir gemeinsam eine breite Palette an Fachdisziplinen mit dieser Trainingsumgebung unterstützen könnten. Dadurch würde nicht nur die Lehramtsausbildung mit modernen Medien angereichert, sondern auch die Erforschung von Lehrsituationen könnte von authentischen und zugleich hochkontrollierbaren Umgebungen profitieren, in denen reale Schüler*innen nicht Testobjekte für unerprobten Methoden werden.
Sollten Sie Interesse an weiteren Informationen haben, empfehlen wir Ihnen zunächst einen Blick auf unsere Teach-R-Website, die auf das Wiki verweist und zukünftig auch Projektseiten der Kooperationspartner*innen sichtbar machen soll. Gerne können Sie uns darüber hinaus auch direkt kontaktieren!