Psychologische Wirkfaktoren der digitalen Lehre in der Medizin am Beispiel der Sectio Chirurgica

30.10.2017: Die Sectio Chirurgica ist eine etablierte digitale Lernplattform aus dem Bereich der medizinischen Lehre. Das Herzstück der Plattform ist die wöchentlich stattfindende Live-Veranstaltung. Die Idee dieser Veranstaltung ist es, realitätsnahe chirurgische Eingriffe, moderiert von einem Anatomen, am Präparat darzustellen und live online zu übertragen. Im Interview diskutieren Bernhard Hirt vom Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik an der Universität Tübingen und Johannes Großer vom Leibniz-Institut für Wissensmedien am Beispiel der Sectio Chirurgica, was wichtige Wirkfaktoren sind, die die digitale Lehre erfolgreich machen.

Im Wintersemester 2008/2009 wurde die Sectio Chirurgica gestartet – damals noch mit einfachen Webcams und eher rudimentärer Technik. Aber die Grundidee stand: Es sollten operative Eingriffe und Techniken bei verschiedenen Krankheitsbildern am anatomischen Präparat dargestellt werden, um so eine Verknüpfung von anatomischem Grundlagenwissen und dessen klinischer Anwendung herzustellen. Eine Besonderheit des Formats ist, dass die Eingriffe live im Internet gestreamt werden, sodass Zuschauer dem Geschehen weltweit folgen können. Die Eingriffe nehmen, je nach Fall, Experten aus den verschiedenen medizinischen Disziplinen vor, die im OP über eine Liveschaltung mit dem Anatomieprofessor Bernhard Hirt verbunden sind. Dieser moderiert die Sendung, kommentiert das Geschehen und stellt anatomische Hintergrundinformationen zur Verfügung. Weitere Informationen finden Sie im 74. Statement zu E-Learning. Über die Jahre hat sich die Sectio Chirurgica weiterentwickelt und professionalisiert. Neben hochwertiger Aufnahmetechnik und einem Green-Screen-Studie wurden auch zahlreiche Features für die Zuschauer implementiert. So haben die Zuschauer heute die Möglichkeit, anhand von Live-Voting, Chat und Skype-Schaltungen aktiv am Geschehen teilzunehmen. Das Format der Sectio Chirurgica ermöglicht somit die Einbindung weiterer medizinischer Disziplinen, öffnet die vorklinische Lehre für die Praxis und bietet eine Plattform für den Diskurs zwischen verschiedenen medizinischen Professionen.
Im Rahmen des Interviews wird auf das Forschungsprojekt OpenTeach eingegangen, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wird. In diesem Projekt wird untersucht, inwiefern die gewünschten Lernprozesse durch das Online-Videoformat der Sectio Chirurgica ausgelöst werden. Hierfür werden psychologische Wirkfaktoren wie beispielsweise der Einfluss von Vorwissen, die Möglichkeit zur Interaktion, der Aspekt der Unterhaltsamkeit des Formats und die Möglichkeit zum interprofessionellen Austausch im Detail betrachtet. Es wird untersucht, ob verschiedene Nutzergruppen, z.B. mit unterschiedlichem Vorwissen, tatsächlich das von dem Lern-Arrangement intendierte anwendungs- und professionsrelevante Wissen erwerben. Darüber hinaus wird experimentell erforscht, in welchen lernrelevanten Aspekten die komplexe Darstellung einer Operation dem gängigen Vorlesungsformat überlegen ist und inwiefern die Sectio Chirurgica das Potenzial besitzt einen interprofessionellen Austausch zu stärken.
Insgesamt kann die Sectio Chirurgica als ein erfolgreiches eTeaching-Format bewertet werden, da sie zentrale psychologische Wirkfaktoren der digitalen Lehre vereint: Sie ist unterhaltsam und bietet Möglichkeiten zur Interaktion und Kollaboration im interdisziplinären und interprofessionellen Austausch.

Über die Autoren

Bernhard Hirt ist seit 2015 W3-Professor für Anatomie und Direktor des Instituts für Klinische Anatomie und Zellanalytik an der Universität Tübingen. 2008 gründete er die Onlineplattform Sectio Chirurgica, mit der er die Vorgaben der Approbationsordnung für Ärzte, klinische Inhalte bereits in der Vorklinik zu lehren, innovativ umsetzte. Er wurde 2014 für die Sectio chirurgica mit dem Ars legendi Fakultätenpreis Medizin ausgezeichnet, außerdem ist die Sectio chirurgica ausgezeichneter Ort beim Wettbewerb „Deutschland – Land der Ideen“ 2015.

Beitragende

Martina Bientzle ist seit 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am Tübinger Leibniz-Institut für Wissensmedien und arbeitet als nebenamtliche Dozentin an der PT Akademie Tübingen (Schule für Physiotherapie). In
ihrer Forschung untersucht Sie den Einfluss unterschiedlicher für den Gesundheitsbereich bedeutsamer Überzeugungen auf individuelles Lernen und kooperative Wissenskonstruktionsprozesse mit digitalen Medien in partizipativen Lernsettings.
Seit Mai 2017 ist Johannes Großer als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am IWM. Er arbeitet am BMBF-Projekt „Open Teach“, wobei ihn besonders die Möglichkeiten digitaler Lehre in interdisziplinären Lernumgebungen
sowie damit verbundene soziale Prozesse interessieren.
Joachim Kimmerle ist stellvertretender Leiter der Arbeitsgruppe Wissenskonstruktion am Leibniz-Institut für Wissensmedien und apl. Professor am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen. Er leitet Forschungsprojekte im Rahmen des EU-Forschungs-
und Innovationsprogramms „Horizon 2020“, im Leibniz-WissenschaftsCampus Tübingen sowie im Rahmen von Förderungen durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung. In seiner Forschungsarbeit befasst er sich mit kognitiven, motivationalen und sozialen Aspekten der kollektiven Wissenskonstruktion, mit Wissenschaftskommunikation, Gesundheitsbildung und mit computer-unterstütztem kollaborativem Lernen.
Dr. med. Thomas Shiozawa ist seit 2005 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Klinische Anatomie und Zellanalytik. Er ist Lehrbeauftragter des Department Anatomie, Facharzt für Anatomie und leitet die Prosektur. Sein Forschungsschwerpunkt ist
die Lehr- und Ausbildungsforschung in der Medizin, ein Fachgebiet in dem er auch einen postgradualen Master (MME) absolviert hat.

Weitere Informationen

Dieser Erfahrungsbericht ist Teil des Themenspecials Was macht Lernen mit digitalen Medien erfolgreich?.