Integration von Augmented Reality im Medizincurriculum der Universität Halle-Wittenberg
12.02.2025: Die Digitalisierung hält zunehmend Einzug in verschiedene Bereiche des Gesundheitswesens – und damit auch in die medizinische Ausbildung. An der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg ist das Thema Digitalisierung bereits fest im Curriculum verankert. Im Interview mit e-teaching.org stellen Dr. Josefin Bosch und Christina Klus zunächst zwei Einsatzszenarien von Augmented Reality (AR) in der medizinischen Lehre vor. Davon ausgehend erläutern sie, welche Rolle diese Lernanwendungen im Gesamtcurriculum einnehmen – und dass es dabei nicht zuletzt um eine reflektierte Auseinandersetzung mit den Herausforderungen und Auswirkungen der Digitalisierung auf den medizinischen Berufsalltag geht.
XR im „Digitalisierungs-Curriculum“ der Universitätsmedizin Halle
Im Digital HealthCare Hubs am Dorothea Erxleben Lernzentrum, (DELH), dem Skillslab der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU), entsteht seit dessen Gründung im Jahr 2021 ein großer Pool an eigens entwickelten Lernanwendungen. Dabei lernen sie bereits in den ersten Semestern VR- und AR-Technologien als unterstützende Mittel für ihren Studienalltag kennen. Im Interview mit e-teaching.org stellen Dr. Josefin Bosch und Christina Klus die beiden AR-Projekte „AR-Schädel-App“ und „Patientenvisite der Zukunft“ vor. Für die Digital Learning Map von e-teaching.org haben sie außerdem zwei VR-Anwendungen ausführlicher beschrieben, das Projekt Virtuelle Leichenschau sowie das 2024 mit dem Preis für innovative Lehre der Universitätsmedizin Halle ausgezeichnete Projekt Rundflug durch den Schädel in VR.
Durch solche interaktiven Lernangebote erhalten Medizinstudierende neue Möglichkeiten, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten auf immersive Weise zu erweitern. Zugleich fördern die innovativen Lehrmethoden nicht nur (beispielsweise) das Verständnis komplexer anatomischer Zusammenhänge, sondern auch den Umgang mit digitalen Werkzeugen, die in der zukünftigen medizinischen Praxis eine immer größere Rolle spielen werden. Besonders wertvoll ist das Üben in einer sicheren Umgebung – ein zentraler Aspekt im Gesundheitssektor, insbesondere bei der Arbeit mit vulnerablen Personengruppen. Auf diese Weise werden die Studierenden auch auf die Herausforderungen einer zunehmend digitalisierten Gesundheitsversorgung vorbereitet.
Interview mit Dr. Josefin Bosch und Christina Klus
e-teaching.org: An der Medizinischen Fakultät der MLU werden verschiedene XR-Technologien in das Curriculum integriert. Wann kommen diese Technologien zum Einsatz? Vor allem: Was lernen die Studierenden mithilfe der Anwendungen?
Dr. Josefin Bosch: An unserer Fakultät haben wir ein strukturiertes „Digitalisierungs-Curriculum“ entwickelt, das sich über mehrere Semester erstreckt und eine Vorlesung sowie zwei Praktika umfasst. Die XR-Technologien kommen jeweils in den Praktika zum Einsatz, aber auch in weiteren Lehrveranstaltungen. Das erste Praktikum findet im 2. Semester statt. In dieser Zeit, der sogenannten Vorklinik, also in den ersten vier Semestern des Medizinstudiums, erwerben die Studierenden fundierte Kenntnisse über anatomische Strukturen. Üblicherweise erfolgt diese Wissensvermittlung mit Grafiken und Lehrbüchern. Für uns hat sich deshalb die Frage gestellt, wie wir mit immersiven Technologien das Lernen unterstützen können. Um die Zusammenhänge auch im dreidimensionalen Raum und direkt an einem physischen Model visualisieren zu können, entstand in Zusammenarbeit mit dem Institut für Anatomie und Zellbiologie eine Augmented Reality-Lernapp, die in Kombination mit einem 3D-gedruckten Schädel genutzt wird und verdeutlichen soll, wie anatomische Strukturen interaktiv gelernt werden können.
Im 5. Semester rückt der klinische Kontext in den Mittelpunkt. Hier geht es um die Frage, wie digitale und speziell immersive Technologien den beruflichen Alltag in der Medizin unterstützen können. Die Studierenden haben die Möglichkeit, zwei Szenarien selbst zu erleben: eine AR-gestützte Patientenvisite und eine VR-Expositionstherapie, bei der sich Patienten in einer virtuellen Umgebung mit ihren Ängsten auseinandersetzen, um diese schrittweise zu lindern.
Bitte beschreiben Sie uns die AR-Schädel-App noch etwas genauer. Sie haben eben einen 3D-gedruckten Schädel erwähnt – wird es dabei also ganz „haptisch“?
Christina Klus: Die AR-Schädel-App ist eine interaktive Lernanwendung, die wir gemeinsam mit dem Institut für Anatomie und Zellbiologie speziell für die Vermittlung von anatomischen Grundlagen entwickelt haben. Unser Ziel ist es, den Studierenden in der Vorklinik ein präzises und anschauliches Verständnis der anatomischen Strukturen zu ermöglichen. Die App kombiniert Augmented Reality mit einem physisch greifbaren Schädelmodell. Dieses Modell wurde basierend auf 3D-Scans und dem Standardatlanten der Anatomie, einem Standardwerk für die anatomische Lehre, konstruiert und anschließend in unserem 3D-Druck-Labor gedruckt. Am Schädel sind alle prüfungsrelevanten Strukturen und Merkmale sichtbar. Die AR-App ermöglicht es nunmehr das physische Model mit einer digitalen Ebene zu erweitern. Wird der Schädel in der Hand gescannt, werden im Kamerabild Namen und Informationen darüber eingeblendet. Während Studierende das physische Modell von allen Seiten betrachten, bewegt sich das virtuelle Bild entsprechend mit. Diese Kombination aus haptischem und multimedialem Erlebnis soll das Verständnis der komplexen anatomischen Zusammenhänge erleichtern und die Lerninhalte anschaulicher machen. Sollte das physische Modell einmal nicht zur Hand sein, besteht die Möglichkeit, einen virtuellen Schädel in AR zu platzieren.
Auf diese Weise werden alle benötigten Informationen an einem Ort gebündelt und es entfällt die Notwendigkeit, einzelne Strukturen in Fachbüchern zu suchen. Die App erfasst zudem den Lernfortschritt und bietet eine Quizfunktion, die dabei hilft, das eigene Wissen zu überprüfen und zu vertiefen. Somit kann die App sowohl beim Training als auch in der Prüfungsvorbereitung unterstützen.
Die AR-Schädel-App ist ein gutes Beispiel für die enge Zusammenarbeit der verschiedenen Bereiche des Digital Health Care Hubs am DELH. Die Kombination von AR und 3D-Druck zeigt, wie digitale und haptische Technologien gemeinsam gedacht werden können, um das Lernen praxisnah und innovativ zu gestalten.
Sie haben erwähnt, dass Sie ab dem 5. Semester in der Lehre mit AR auch den klinischen Alltag betrachten. Wie kann man sich dies genau vorstellen?

Dr. Josefin Bosch: Im Rahmen des Praktikums im 5. Semester zeigen wir den Studierenden mit einer AR-Anwendung zur Patientenvisite der Zukunft, wie digital-assistive Technologien im klinischen Alltag eingesetzt werden könnten. Wir simulieren einen typischen Ablauf einer Patientenvisite im Krankenhaus. Mithilfe von Augmented-Reality-Brillen werden dabei verschiedene Einsatzszenarien veranschaulicht, wie ein Patientengespräch zukünftig organisiert sein könnte.
Christina Klus: Zum Beispiel erkennt die AR-Brille mit Hilfe speziell gestalteter Marker ein Türschild eines Patientenzimmers und lädt automatisch relevante Patientendaten, wie den Namen und die Diagnose der Person in diesem Zimmer. Diese Inhalte werden in der AR-Brille direkt vor den Augen der Studierenden eingeblendet, während die Hände für Untersuchungen frei bleiben.
Von dort geht es weiter zum Gespräch mit dem Patienten, wo die AR-Brille das Gesicht scannt und ergänzende Informationen für die Untersuchung einblendet. Darüber hinaus erleichtert die AR-Brille bei Bedarf das Auffinden von Materialien, indem sie virtuelle Hinweise wie Pfeile oder Markierungen im Raum darstellt oder Erklärvideos zu Behandlungssabläufen zeigt. Mit diesem Fallbeispiel wird veranschaulicht, wie Technologie den Alltag im Klinikbetrieb optimieren könnte. Das Ganze lässt sich beliebig erweitern, indem z. B. Schauspielpersonen eingebunden werden. Studierende sammeln auf diese Weise also praktische Erfahrungen mit digitalen Werkzeugen und entwickeln ein Verständnis für deren Potenziale und Grenzen im medizinischen Kontext. Damit möchten wir ihnen bereits während des Studiums einen Eindruck von der „Welt von morgen“ vermitteln.
Lassen Sie uns – nach diesem konkreten Eindruck davon, wie die AR-Technologie bei Ihnen eingesetzt werden – einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf das „große Ganze“ werfen: Warum war Ihnen die Integration in das Curriculum so wichtig? Und welche Ziele verfolgen Sie insgesamt beim Einsatz von AR bzw. auch XR in der medizinischen Lehre?
Dr. Josefin Bosch: Solche Technologien sind Teil unseres Curriculums, weil wir unseren Studierenden die Möglichkeit geben möchten, digitale Technologien zu erleben und ihre Neugier dafür zu wecken. Dabei sind die XR-Anwendungen Teil eines größeren Technologiepools, den unsere Studierenden kennenlernen. Wir setzen aber darüber hinaus auch weitere digitale Tools in der Lehre ein, unter anderem Künstliche Intelligenz, die elektronische Patientenakte (ePA), Telemedizin und 3D-Druck. Es ist aus unserer Sicht entscheidend, dass angehende Ärztinnen und Ärzte schon früh einen Überblick über diese Entwicklungen erhalten, um die Scheu vor deren Nutzung zu verlieren.
Christina Klus: Eines unserer wichtigsten Ziele ist es, die Perspektive der angehenden Ärztinnen und Ärzte zu erweitern und die Zusammenarbeit innerhalb der Professionen im Gesundheitssektor zu fördern. Deshalb sind unsere Lehrveranstaltungen darauf ausgelegt, dass die Studierenden ihre eigenen Erfahrungen sammeln können: Wie fühlt es sich an, mit AR- bzw. XR-Technologien zu arbeiten? Welche Möglichkeiten, aber auch Herausforderungen ergeben sich? Und wie erleben Patientinnen und Patienten diese Entwicklungen?
Dabei ist uns eine kritische Auseinandersetzung besonders wichtig. Wir wollen, dass unsere Studierenden eine reflektierte Haltung entwickeln und digitale Tools menschenzentriert einsetzen. Sie sollen die Kompetenz erwerben, um Fragen zu stellen: Welche ethischen und rechtlichen Implikationen hat die Nutzung dieser Technologien? Was bedeutet es für den Datenschutz, Gesundheitsdaten jederzeit verfügbar zu machen? Neben den grundlegenden technischen Fertigkeiten wollen wir das Bewusstsein dafür schärfen, wie solche Entwicklungen dazu beitragen können, die Gesundheitsversorgung zu verändern. Indem Studierende die Potenziale und Grenzen von Beispielanwendungen erleben, möchten wir sie befähigen, auch später neue Technologien kompetent und reflektiert in ihrem Berufsalltag einzusetzen.
Können Sie uns ein Beispiel für den Umgang mit diesen nicht einfachen Fragen geben? Gibt es beispielsweise Bereiche, in die sie keine digitalen Medien einbeziehen, also so etwas wie eine Grenze für den Einsatz von XR?
Dr. Josefin Bosch: Ja, es gibt definitiv Bereiche, in denen wir auf digitale Technologien verzichten. Uns ist es wichtig, dass digitale Tools immer ein Mittel zum Zweck sind und nicht zum Selbstzweck werden. Sie sollen die medizinische Ausbildung bereichern, aber nicht grundlegende didaktische Prinzipien oder essenzielle zwischenmenschliche Aspekte ersetzen.
Ein Beispiel für eine Lehrsituation, in der wir auf analoge Methoden setzen, ist die Auseinandersetzung mit dem Thema Patientendaten und deren Austausch zwischen Kliniken. Wir nutzen eine geleitete Fallbesprechung, in der die Studierenden in einer moderierten Diskussion die Perspektiven verschiedener Akteure – Patient, Klinik, behandelnde Ärztinnen und Ärzte – einnehmen. Dabei erarbeiten sie eigenständig die ethischen, rechtlichen und praktischen Herausforderungen von Big Data und Datenschutz im Gesundheitswesen. Wir wollen damit die Studierenden anregen, über den reinen Technologieeinsatz hinaus auch gesellschaftliche und ethische Dimensionen der Digitalisierung zu reflektieren.
Christina Klus: Mit einem Blick auf die Arbeitswelt zeigt sich, dass sich diese Herausforderungen und Möglichkeiten stetig wandeln. Im Bereich XR sind Virtual Reality-Brillen längst über den Forschungsbereich hinausgewachsen und finden insbesondere in der Spielebranche breite Anwendung. Dem gegenüber steht Augmented Reality noch vor größeren Herausforderungen in der Implementierung. Die Gründe liegen dabei unter anderem in der Hardware: Akkulaufzeiten, Gewicht, Tragekomfort und eine begrenzte Software-Verfügbarkeit schränken die Alltagstauglichkeit ein. Obwohl kontinuierliche Verbesserungen stattfinden, sind die Produkte noch nicht so allgegenwärtig wie z. B. der ständige Begleiter das Smartphone. Dies könnte sich mit fortschreitender Digitalisierung und Technologisierung ändern. Als Bildungseinrichtung haben wir deshalb die Aufgabe das Bewussstsein für diese Prozesse zu schärfen und einen verantwortungsvollen Umgang zu schulen.
Bitte beschreiben Sie uns abschließend noch, wie Sie überhaupt zu Ihren (neuen) Projekten kommen? Haben Sie schon weitere Ziele für die Zukunft?
Christina Klus: Wir legen großen Wert darauf, unsere Inhalte selbst zu entwickeln. Auf diese Weise können wir auf die Bedürfnisse der einzelnen Studienjahre eingehen. Unsere Projekte entstehen häufig in einem kreativen und interdisziplinären Prozess in einem Team aus Lehrenden, Mitarbeitenden und Studierenden zusammen. Neue Ideen kommen aus der gesamten Fakultät, manchmal auch direkt aus den Kursen. Einige Projekte werden im Rahmen von Abschlussarbeiten weiterentwickelt, was Studierenden die Möglichkeit gibt, aktiv an innovativen Konzepten mitzuwirken.
Dr. Josefin Bosch: Für die Zukunft haben wir klare Ziele. Wir möchten digitale Technologien noch weiter im Curriculum verankern und neue Anwendungen entwickeln, die über die Medizin hinaus auch für andere Gesundheitsstudiengänge relevant sind. Ein konkretes Beispiel ist die Erweiterung unserer VR-Anwendungen, die nicht nur in der medizinischen Lehre, sondern auch in der Aus- und Weiterbildung von anderen Gesundheitsstudiengängen der Fakultät eingesetzt werden könnten. Unser Fokus ist es, innovative Projekte zu schaffen, die sowohl technologisch als auch didaktisch auf dem neuesten Stand sind, immer mit dem Ziel, die Studierenden bestmöglich auf die Herausforderungen einer digitalisierten Gesundheitswelt vorzubereiten.
Beitragende
Halle Lehrformate für Medizinstudierende sowie Ärztinnen und Ärzte, um sie fit für die Digitalisierung zu machen.
welches zu den größten Lernkliniken in Deutschland zählt. In ihrer Funktion als Projektleiterin für Virtual und Augmented Reality umfasst ihre Arbeit die Konzeption, XR-Entwicklung sowie die Umsetzung und Evaluation von interaktiven Lernanwendungen im Bereich der Humanmedizin.
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