Förderung mathematikdidaktischer Medienkompetenzen von Lehramtsstudierenden der Grundschule: Das math.media.lab der Humboldt-Universität zu Berlin
16.03.2021: Im math.media.lab an der Humboldt-Universität zu Berlin erhalten Grundschullehramtsstudierende einen Einblick in das Unterrichten mit digitalen Medien im Fach Mathematik. Prof. Dr. Katja Eilerts und Dr. Frederik Grave-Gierlinger sprechen im Interview über die Rolle von Hochschulen während der Corona-Pandemie und stellen den theoretischen Hintergrund sowie die praktische Umsetzung des math.media.lab vor.
Die Leiterin des math.media.lab, Frau Prof. Dr. Katja Eilerts, spricht im Interview über die Voraussetzungen und Hürden erfolgreicher Digitalisierung deutscher Schulen und über Erfahrungen aus der Corona-Krise. Gemeinsam mit ihrem Mitarbeiter Herrn Dr. Frederik Grave-Gierlinger wird der Problemkomplex digitaler Kompetenzen von Lehrkräften thematisiert und die Rolle des math.media.lab in der Aus- und Fortbildung von Grundschullehrkräften an der Humboldt-Universität zu Berlin behandelt.
Interview
Wir erleben momentan aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie eine besondere Aufbruchstimmung im Bildungsbereich. Die Schulschließungen haben gravierende infrastrukturelle Mängel und ein Fehlen didaktischer Konzepte für digitalen Unterricht an den deutschen Schulen aufgezeigt. Der Umstand, dass die durch das Corona-Virus 2020 ausgelöste Ausnahmesituation vollkommen unerwartet eingetreten ist, hat an zahlreichen allgemeinbildenden Schulen eine Ad-hoc-Digitalisierung notwendig gemacht. Wie bewerten Sie diese Entwicklung?
Katja Eilerts: Zunächst ist festzuhalten, dass die Schwierigkeiten in der Umsetzung digitalen Unterrichts, die wir während der Schulschließungen erlebt haben, im Grunde zu erwarten waren. In vielen Bundesländern existieren, um nur ein Beispiel zu nennen, Lernplattformen, die den Schulen kostenfrei zur Verfügung stehen und mit denen man hätte arbeiten können. Dass vor den Schulschließungen nur ein Drittel aller Lehrkräfte einen Zugang zu einer solchen Lernplattform angefordert hatte, macht deutlich, dass hier Defizite bestanden. Diese Defizite sind jetzt durch die besondere Situation der letzten Monate deutlich in die Aufmerksamkeit der breiteren Bevölkerung gerückt.
Da wir uns als Team des math.media.lab intensiv mit Fragen rund um den Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht auseinandersetzen, haben wir in den vergangenen Monaten auch viele Anfragen dazu erhalten, wie Mathematikunterricht in digitaler Form umgesetzt werden kann. Das ist auf der einen Seite erfreulich, auf der anderen Seite war die Erwartung über Nacht die Gesamtheit des Mathematikunterrichts mit all seinen unterschiedlichen inhaltlichen Leitideen in digitaler Form bereitzustellen. Das ist aber weder möglich, noch ist es aus unserer Sicht ein erstrebenswertes Ziel. Der Einsatz digitaler Medien sollte im schulischen Kontext immer kritisch reflektiert werden. Den Mathematikunterricht eins zu eins aus der analogen in die digitale Welt zu übertragen, würde in vielen Fällen bedeuten, die Stärken der analogen Lernumgebungen einzubüßen, ohne die besonderen Potenziale digitaler Medien auszuschöpfen. Es müssen die spezifischen Grenzen analogen Lernens in den Blick genommen werden, um darauf aufbauend die besonderen Potenziale des Einsatzes digitaler Medien für den Mathematikunterricht (vgl. Krauthausen, 2012; Krommer, 2015; Schaumburg, 2015; Sarama & Clements, 2016; Walter 2018) zu nutzen, denn an diesen Punkten lässt sich eine echte Bereicherung des Unterrichts durch digitale Medien gewährleisten. Das bedeutet nicht, dass eine Substitution analoger Medien durch digitale Medien nicht manches mal ein praktikabler erster Schritt sein kann (vgl. Abb. 1). Eine nachhaltige Etablierung einer digitalen Kultur erfordert nach unserem Dafürhalten aber mehr; der Einsatz digitaler Medien muss sich früher oder später als genuin wertvoll erweisen. Dabei ist es uns wichtig, stets im Blick zu behalten, dass analoge Lernumgebungen für bestimmte Lernziele besser geeignet sein können als digitale Lernumgebungen und eine Digitalisierung analoger Materialien kein Selbstzweck sein sollte. Aus dieser Perspektive sind wir nicht über jeden Aspekt der aktuellen Entwicklungen glücklich, auch wenn die allgemeine Aufmerksamkeit, die der Digitalisierung unserer Schulen derzeit zukommt, sehr zu begrüßen ist.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Erkenntnisse aus der Corona-Krise für die weitere Entwicklung der Digitalisierung in Deutschland?
Frederik Grave-Gierlinger: Die wichtigste Erkenntnis aus der Corona-Krise ist vielleicht, dass wir bisher unzureichend in der Lage waren, die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Digitalisierung deutscher Schulen zu schaffen (vgl. Schmid, Goertz & Behrens, 2017; Thom et al. 2017). Wir konnten uns hier in Deutschland zwar auf den Digitalpakt einigen, haben es jedoch nicht geschafft, die dadurch aufgebaute Erwartung einer zunehmenden Digitalisierung schulischer Lehr-Lern-Prozesse zu erfüllen. Das wirft die Frage auf, woran die Schulen in Deutschland scheitern. Warum wurden bislang kaum Gelder aus dem Digitalpakt abgerufen?
Eine mögliche Erklärung ist, dass die Herausforderungen der Erstellung eines Medienkonzeptes unterschätzt werden. Zwar ist zu begrüßen, dass Schulen ein Konzept entwickeln müssen, welches sicherstellt, dass die Mittel des Digitalpaktes auf sinnvolle Art und Weise eingesetzt werden. Gleichzeitig brauchen die Schulen aber auch Unterstützung bei der Entwicklung und Formulierung eines solchen Konzeptes. Ob eine Schule ein Medienkonzept erstellt und damit Gelder aus dem Digitalpakt abfragt, hängt im Moment häufig davon ab, ob die Schule über Lehrkräfte verfügt, welche die notwendigen digitalen Kompetenzen besitzen und aktiv daran interessiert sind, den Einsatz digitaler Medien im Unterricht voranzutreiben. Aus international angelegten Studien wissen wir aber, dass die Zahl der Lehrkräfte, die in Deutschland im Rahmen ihrer Aus- und Fortbildung Erfahrungen mit dem Einsatz digitaler Medien im Unterricht sammeln konnten, sowohl relativ im Vergleich zu anderen Ländern als auch absolut in Zahlen gesehen gering ist (vgl. Fraillon et al., 2020).
Mit Blick auf die universitäre Ausbildung von Lehrkräften legen die Erfahrungen der Corona-Krise deshalb vor allem nahe, dass es ein zentrales Anliegen werden muss, digitale Medien fest im Lehramtsstudium zu verankern (vgl. Bertelsmann Stiftung, 2018; Kultusministerkonferenz, 2019). Angehende Lehrkräfte müssen ganz gezielt für den effektiven Einsatz digitaler Medien im Unterricht ausgebildet werden. In unseren Seminaren stellen wir etwa häufig ein fehlendes Bewusstsein für die Breite der sinnvoll im Unterricht einsetzbaren, digitalen Technologien sowie die Möglichkeiten, digitale und analoge Medien auf bereichernde Weise miteinander zu verbinden, fest. Dieses Bewusstsein muss aktiv entwickelt werden. Wir bemühen uns deshalb in der universitären Ausbildung besonders darum, ganz unterschiedliche Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien im Unterricht aufzuzeigen und den Studierenden ausreichend Raum zu geben, die unterschiedlichen digitalen Werkzeuge selbstständig zu erkunden und zu erproben.
Katja Eilerts: Eines sollte man dabei nicht vergessen: In Deutschland hat die Kultusministerkonferenz das Strategiepapier „Bildung in der digitalen Welt“ veröffentlicht (vgl. Kultusministerkonferenz 2017). Darin werden zahlreiche Medienkompetenzen aufgelistet und beschrieben, die von Schülerinnen und Schülern erworben werden sollen. Eine Anbindung an den Fachunterricht fehlt bei der Formulierung dieser Kompetenzen. Das ist insofern ein Problem, als der Erwerb der eingeforderten Medienkompetenzen im Fachunterricht erfolgen muss. Die konkrete Umsetzung wird dabei im Moment vollständig den Fachlehrkräften überlassen, die auf diese Aufgabe aufgrund mangelnder Erfahrung mit dem Einsatz digitaler Medien im Allgemeinen nicht hinreichend vorbereitet sind. Was dringend benötigt wird, ist eine Konkretisierung der erwarteten Medienkompetenzen durch die diversen Fachdidaktiken.
In dieser Hinsicht ähnelt die derzeitige Diskussion rund um die Digitalisierung der Schulen ein wenig jener aus den 1990er Jahren. Damals sollten PC- und Laptopklassen etabliert werden. Erfolgreich war das Vorhaben nicht. Inzwischen sind 30 Jahre vergangen, zahlreiche neue Technologien sind verfügbar, aber die Erwartungen, die an digitale Medien im Unterricht geknüpft werden, sind in vielerlei Hinsicht dieselben geblieben. Hier ist Vorsicht geboten, nicht erneut unerfüllbaren Versprechen zu erliegen. Die Diskussion beschränkt sich bedauerlicherweise häufig auf allgemein medienpädagogische oder technologische Aspekte. Die fachdidaktische Perspektive, also die Betrachtung fachbezogener Potenziale digitaler Medien wird kaum angemessen berücksichtigt. Digitalisierung wird gängig aus der Perspektive der Technologie und technologischer Entwicklungen betrachtet, sehr selten nur aus der Perspektive der Fachdidaktik und den dort identifizierten Potenzialen digitaler Medien. Dabei verlangt eine nachhaltige Etablierung digitaler Medien im schulischen Unterricht im Grunde genau das: Von der Fachdidaktik ausgehend die besonderen Potenziale digitaler Technologien zu denken, sodass diese einen echten Mehrwert für Lehr-Lern-Prozesse generieren und ihren festen Platz im Unterrichtsgeschehen erhalten. Das bedeutet, dass es nicht damit getan ist, digitale Werkzeuge, wie Lernplattformen, Videokonferenzsysteme oder elektronische Prüfungsformate in der universitären Lehre einzusetzen, sondern wir müssen den Studierenden im Rahmen der fachdidaktischen Seminare die Möglichkeit geben, anhand konkreter Beispiele den Nutzen digitaler Medien für den Fachunterricht zu erfahren.
In dieser Hinsicht sind wir als Fachbereich Mathematik auch sehr um interdisziplinäre Zusammenarbeit bemüht: In Kooperation mit den Fachbereichen für Sachunterricht und Deutsch veranstalten wir an der Humboldt-Universität einen Studientag zum digital unterstützten Lehren und Lernen in den Kernfächern der Grundschule und sind im Begriff, einen gemeinsam genutzten Raum als Maker-Space für Studierende der Grundschulpädagogik einzurichten. Darüber hinaus ist das math.media.lab an einem durch die Telekom-Stiftung geförderten Projekt zur Zukunft des MINT-Lernens beteiligt, welches eine enge Zusammenarbeit zwischen den Fachdidaktiken der MINT-Fächer bezogen auf den Einsatz digitaler Medien im schulischen Unterricht anstrebt.
Sie haben betont, dass Studierende und Lehrkräfte im math.media.lab die Gelegenheit erhalten, digitale Medien selbstständig zu erkunden und zu erproben. Warum ist es für Sie wichtig, dass angehende und berufstätige Lehrkräfte diese Möglichkeit erhalten?
Frederik Grave-Gierlinger: Wir haben zu dieser Frage Anfang des Jahres eine Erhebung unter unseren Studierenden durchgeführt. Auf Grundlage dieser Studie wissen wir, dass angehende Lehrkräfte sich eher zutrauen, digitale Medien im Mathematikunterricht einzusetzen, wenn Sie in der Vergangenheit Gelegenheit hatten Kontrollerfahrungen mit digitalen Medien zu machen. Das ist zunächst nicht sehr überraschend. Was uns erstaunt hat, ist das Ausmaß, in dem sich Kontrollerfahrungen auf die Selbstwirksamkeitserwartung auswirken; insbesondere im Vergleich zu den Auswirkungen anderen Faktoren. Das bedeutet, wenn Selbstwirksamkeitserwartungen bezogen auf den Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht gestärkt werden sollen, dann muss den Studierenden, zusätzlich zur Erörterung der Potenziale digitaler Medien, auch die Möglichkeit gegeben werden, Kontrollerfahrungen mit digitalen Medien zu machen. Das math.media.lab dient als multimediales Lehr-Lern-Labor (vgl. Abb. 2) genau diesem Zweck und wir erachten es auf Grundlage der durchgeführten Studie als einen wichtigen Bestandteil der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften.
Katja Eilerts: Die Ergebnisse der Studie decken sich im Übrigen auch mit unseren persönlichen Erfahrungen in der Aus- und Fortbildung. Die Möglichkeit, selbstständig mit den unterschiedlichen digitalen Werkzeugen tätig zu werden und im eigenen Tempo deren Einsatzmöglichkeiten zu erkunden, führt in den meisten Fällen zu einer intensiveren und tiefgreifenderen Auseinandersetzung mit digitalen Technologien. Wir legen aus diesem Grund besonderen Wert darauf, dass angehende Lehrkräfte während ihres Studiums Gelegenheiten erhalten, digitale Medien in unserem multimedialen Lehr-Lern-Labor aktiv zu erkunden und verschiedene Einsatzmöglichkeiten zu erproben. Dazu haben die Studierenden während der Öffnungszeiten unseres Labors und im Rahmen fachdidaktischer Seminare, die dort stattfinden, Gelegenheit. Während ihrer Praxisphasen können Studierende zudem vorkonfigurierte Tablets sowie verschiedene Roboter mitsamt Unterrichtsmaterialien und konkreten Vorschlägen für digital unterstützte Lehr-Lern-Umgebungen im math.media.lab ausleihen. Darüber hinaus setzen wir in unseren Fortbildungen auf die Möglichkeit, die teilnehmenden Lehrkräfte mit Studierenden aus dem Masterprogramm zu vernetzen, um zu erreichen, dass Studierende und Lehrkräfte in kooperativen Teams zu zweit den Einsatz digitaler Unterstützungselemente planen, gemeinsam eine digital unterstützte Lehr-Lern-Umgebung an der Schule der Lehrkraft umsetzen und im Nachgang zusammen bewerten und reflektieren. Angehenden Lehrkräften soll dadurch im Verlauf ihres Lehramtsstudiums mehrmalig die Möglichkeit gegeben werden, praktische Erfahrungen im Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht zu sammeln.
Frederik Grave-Gierlinger: Was hier auch nicht vergessen werden sollte, ist die Bedeutung, die dem math.media.lab als Ort zukommt, an dem spielerisch mit neuen Technologien an digital unterstützten Lernumgebungen getüftelt und gebastelt werden kann. Wir wissen aus der erwähnten Studie nicht nur von der Bedeutung persönlicher Kontrollerfahrungen, sondern konnten auch zeigen, dass der Abbau von Ängsten und das Erleben von Freude beim Einsatz digitaler Technologien eine zentrale Rolle in der Vermittlung zwischen subjektiv wahrgenommener Kontrolle über digitale Medien und der diesbezüglichen Selbstwirksamkeitserwartung spielt. Die Ergebnisse der Studie weisen damit eindrücklich auf den Nutzen solcher Orte hin, an denen in einem geschützten Rahmen mit neuen Medien experimentiert werden kann und an denen Besucherinnen und Besucher bei Schwierigkeiten konkrete Unterstützung erhalten.
Sie haben eben eines Ihrer Forschungsprojekte skizziert. Könnten Sie vielleicht einen kurzen Überblick geben, woran Sie im math.media.lab aktuell arbeiten?
Katja Eilerts: Neben der genannten Studie, die Teil eines laufenden Forschungsprojektes zur Operationalisierung und Erhebung digitaler Kompetenzen angehender Lehrkräfte ist, finden sich am math.media.lab aktuell zwei weitere Forschungsprojekte, die Fragestellungen auf Ebene der Studierenden behandeln. Zum einen wäre hier das Projekt „Fachdidaktische Qualifizierung: Inklusion in den MINT-Fächern“ oder kurz „FDQI MINT“ zu nennen. Ziel dieses Projektes ist die Entwicklung und Evaluation von Konzepten, die eine erfolgreiche Verknüpfung der häufig nur getrennt betrachteten Bereiche Digitalisierung, Inklusion und Fach erlauben. Einer der wissenschaftlichen Mitarbeiter im math.media.lab, Dominik Bechinie, entwickelt in Zusammenhang mit diesem Projekt derzeit eine App, die einen heterogenitätssensiblen MINT-Unterricht digital unterstützen soll. Zum anderen ist das Projekt „Matched“ zu nennen. Steven Beyer, ebenfalls wissenschaftlicher Mitarbeiter im math.media.lab, erforscht hier die Potenziale von mobilem Lernen für Professionalisierungsprozesse angehender Lehrkräfte außerhalb des formalen Rahmens eines Seminarraumes. Im Zuge dieses Projektes soll ein digitaler Assistent entwickelt und evaluiert werden, der es erlaubt, informelles Lernen als wichtigen Teil des Lernerfolgs angemessen in der Gestaltung und Durchführung von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zu berücksichtigen.
Neben diesen Projekten auf der Aus- und Fortbildungsebene, gehen wir im math.media.lab auch Fragen auf der Ebene der Multiplikatorinnen und Multiplikatoren sowie des schulischen Unterrichts nach (vgl. Abb. 3).
Das bereits erwähnte Projekt zur Zukunft des MINT-Lernens, an dem das math.media.lab beteiligt ist, erstreckt sich dabei über alle drei der genannten Ebenen: In einem durch die Telekom-Stiftung geförderten Entwicklungskonsortiuum mehrerer Universitäten wird hier an innovativen Konzepten und Lehr-Lern-Umgebungen zum Einsatz digitaler Medien im MINT-Unterricht sowie derer Integration in die Aus- und Fortbildung von (angehenden) MINT-Lehrkräften gearbeitet.
Sie haben im Zusammenhang mit Ihren Ausführungen zu den laufenden Projekten im math.media.lab die Entwicklung von Apps angesprochen. Gibt es denn nicht schon reichlich Lernsoftware auf dem Markt?
Katja Eilerts: Es ist richtig, dass der Markt an Lernsoftware sehr groß ist. Insbesondere das Angebot an Apps expandiert in den letzten Jahren rasant. Zugleich muss man feststellen, dass die Qualität vieler dieser Angebote aus fachdidaktischer Perspektive fraglich ist. Den an der Entwicklung beteiligten Personen fehlt in den meisten Fällen der fachdidaktische Hintergrund. Wir haben uns deshalb auf den Weg gemacht, in einem interdisziplinären Verbund aus Mathematikdidaktik, Informatikdidaktik und Mediendidaktik Prototypen zu entwickeln.
Ein Beispiel ist die in Kooperation mit Carsten Schulte vom Lehrstuhl für Didaktik der Informatik an der Universität Paderborn und Tobias Huhmann vom Lehrstuhl für Mathematikdidaktik an der PH Weingarten erarbeitete Pentomino-App, bei der wir auch erst einmal feststellen mussten, wie aufwendig ein solcher Entwicklungsprozess ist. Unser zentrales Anliegen war es, ausgehend von einer erprobten analogen Lehr-Lern-Umgebung zu Pentominos (vgl. Golomb, 1954; Koth & Grosser, 2010) und auf Grundlage fachdidaktischer Prinzipien eine App zu entwickeln, die bestimmte, vorab identifizierte Grenzen der analogen Lehr-Lern-Umgebung überwindet und auf diese Weise einen didaktischen Mehrwert generiert (vgl. Huhmann, 2013). Wir haben den Einsatz der App dann empirisch untersucht und überprüft, ob sich der erwartete Mehrwert auch tatsächlich realisiert. Wir sind stolz darauf, dass das gelungen ist (vgl. Huhmann, Höveler & Eilerts, 2019).
Frederik Grave-Gierlinger: Anhand eben solcher Beispiele verdeutlichen wir angehenden Lehrkräften im Studium und den Teilnehmenden unserer Fortbildungen, an welchen Punkten es Sinn macht, eine App einzusetzen. Eine typische Aufgabe mit Pentominos ist etwa das Befüllen bestimmter geometrischer Figuren, beispielsweise eines 6x10-Feldes. Diese Aufgabe hat mehr als 2300 unterschiedliche Lösungen; eine für eine Lehrkraft nicht zu überblickende Fülle an Möglichkeiten. Die Pentomino-App ist in der Lage, algorithmisch den Lösungsansatz eines Kindes zu erkennen und adaptiv eine passende Hilfestellung anzubieten, wenn diese benötigt wird. Hier zeigt sich das Potenzial digitaler Medien für den Unterricht.
Katja Eilerts: Und es gibt diverse weitere Beispiele für einen vielversprechenden Einsatz digitaler Medien. Das vorhin erwähnte Projekt „FDQI MINT“ etwa setzt sich mit dem Potenzial digitaler Medien zur Reduzierung der Prozess- und Darstellungsflüchtigkeit auseinander. Hier geht es zentral darum, dass viele Prozesse im Unterricht, etwa das Treiben von Geometrie, flüchtig sind. Kinder erarbeiten etwas und haben am Ende ein Produkt vorliegen. Möchte man aber wissen, wie das Kind zu diesem Produkt gelangt ist, welche Strategie oder Lösungsheuristik es angewandt hat, dann haben Kinder häufig Schwierigkeiten, ihr Vorgehen in Worte zu fassen und die Lehrkraft hat dann keine Möglichkeit, den Prozess zu rekonstruieren. Das Produkt ist da, der Prozess nicht mehr. Auch das ist ein Moment, in dem eindeutig das Potenzial für einen wertstiftenden Einsatz digitaler Medien steckt und wir arbeiten mit den Studierenden gemeinsam daran, diesen Mehrwert für den Unterricht erfahrbar zu machen.
Könnten Sie abschließend vielleicht noch ein paar Worte zu den Zielen und Herausforderungen in der Aus- und Fortbildung von Lehrkräften mit Blick auf den Einsatz digitaler Medien in der Grundschule sagen?
Frederik Grave-Gierlinger: Das zentrale Ziel, das wir mit dem math.media.lab und den damit verbundenen Angeboten verfolgen, ist sicherlich, dass Studierende und Lehrkräfte digitale Medien auf didaktisch sinnvolle Weise zur Erreichung klar definierter fachlicher Lernziele einsetzen können. Wir sind mit anderen Worten vor allem daran interessiert, eine Verbindung fachlichen, didaktischen und technologischen Wissens zu erreichen, also genau das, was im wissenschaftlichen Diskurs als Technological Pedagocial Content Knowledge, kurz TPCK oder TPACK, bezeichnet wird (vgl. Mishra & Koehler, 2006, Koehler et al., 2014;vgl. Abb. 4). Wir sind in diesem Zusammenhang gerade auf dem Weg, das TPACK-Modell domänenspezifisch zu operationalisieren, um die Wirksamkeit von Aus- und Fortbildungsmaßnahmen zum Einsatz digitaler Medien im Mathematikunterricht der Grundschule messbar zu machen und dadurch konkrete Impulse für eine kontinuierliche Verbesserung der Lehre zu generieren.
Abbildung 4. Das TPACK-Modell von M. Koehler und P. Mishra (Reproduced by permission of the publisher, © 2012 by tpack.org)
Katja Eilerts: Aufgrund der kontinuierlichen Entwicklungen in diesem Feld ist es uns darüber hinaus ein besonderes Anliegen, unsere Studierenden über den aktuellen Stand der Forschung aufzuklären und dabei eine kritische Grundhaltung zu digitalen Medien aufzubauen. Günter Krauthausen hat vor Jahren die sogenannte AWARE-Strategie (vgl. Krauthausen, 1991) als Herangehensweise an Einsatzmöglichkeiten digitaler Medien im Unterricht vorgeschlagen. Die AWARE-Strategiese verlangt Anforderungen zu definieren, Warten zu können, Argumente zu fordern, Ressentiments zu vermeiden und Euphorien zu verhindern. Ich halte das nach wie vor für eine gute Herangehensweise. Wichtig ist mir dabei zu betonen, dass analoge Lehr-Lern-Umgebungen gerade in der Grundschule auch weiterhin einen hohen Stellenwert haben werden und einen solchen auch haben müssen. Das aktiv entdeckende Lernen mit allen Sinnen lässt sich aus dem Mathematikunterricht der Grundschule nicht mehr wegdenken und wir bemühen uns im math.media.lab darum, falsche Erwartungen, die mit digitalen Medien verknüpft werden, zurechtzurücken und etwaige euphorische Gefühle ein Stück weit zurückzunehmen. Studierende, die in das multimediale Lehr-Lern-Labor kommen und dort Tablets und Roboter bereitliegen sehen, beginnen ganz oft zu strahlen und sprechen davon, wie viel Freude das den Kindern in der Schule machen wird, mit diesen Geräten zu arbeiten – und das stimmt sicher. Es gibt eine Phase, in der diese Geräte zu einer höheren Motivation führen. Das allein rechtfertigt nach unserer Einschätzung jedoch nicht die Anschaffung dieser Technik. Vielmehr sollte ein konkretes, fachdidaktisch begründbares Ziel mit diesen Geräten verfolgt werden. Genau für solche Einsatzmöglichkeiten und Potenziale ein Bewusstsein bei den Studierenden zu schaffen, das ist mir und uns ein besonderes Anliegen. Soweit verfügbar, dienen uns dabei empirisch validierte Best-Practice Beispiele als Ausgangspunkt, aber Vieles muss eben auch erst erforscht und entwickelt werden.
Die größte Herausforderung, mit der wir uns dabei konfrontiert sehen, ist der Mangel an Kapazitäten. Weil an den Universitäten stets Raummangel herrscht, musste ich zwei Jahre lang um den Raum für das math.media.lab kämpfen. Vor gut einem Jahr wurde uns dann ein Raum mit einer Kapazität von 30 Personen bewilligt. Wenn man bedenkt, dass wir an der Humboldt-Universität 2.500 Lehramtsstudierende in Mathematik begleiten und darüber hinaus Lehrkräfte aus dem Raum Berlin und zum Teil auch bundesweit zu uns in die Fortbildungen kommen, dann muss man sagen, dass das einfach nicht ausreicht. Hier besteht Bedarf an zusätzlichen Mitteln sowohl für die Forschung als auch für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften, um dringend notwendige und anstehende Transformationsprozesse auch in angemessener Zeit stattfinden zu lassen. In dieser Hinsicht hoffen wir sehr darauf, dass das erstarkte Interesse an der Digitalisierung unserer Schulen positive Impulse bringt.
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