Digitalisierung an Hochschulen braucht Flexibilisierung und Einbeziehung aller Beteiligten

14.08.2024: Das Forschungsprojekt digihub.org wird im Rahmen des Verbundprojekts INSIGHT, einer Förderlinie des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), gefördert. Das Projekt untersucht, inwiefern der Digitalisierungsschub während der Corona-Pandemie zu nachhaltigen Veränderungen des Lehren und Lernens an Hochschulen geführt hat. Im Juni 2024 sind nun erste Teilergebnisse veröffentlicht worden, die mit dem Verbundleiter Dr. Roland Bloch vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) diskutiert werden.

Ziel des Verbundprojektes „Digitale Hochschulbildung organisieren, lehren und lernen" (digihub.org) ist es, den Wandel, der durch die Umstellung auf Online-Lehre in der Hochschulbildung ausgelöst wurde, sowohl auf individueller als auch auf organisationaler Ebene empirisch zu rekonstruieren. Darauf aufbauend werden Handlungsempfehlungen für die Gestaltung von digitaler Hochschulbildung gegeben und entsprechende Szenarien entwickelt.

Start des Projekts digihub.org war am 01.07.2022, das ursprünglich vorgesehene Projektende im Juni 2024 wurde um sechs Monate, bis Ende Dezember 2024 verlängert. Neben Projektleiter Dr. Roland Bloch sind weitere Forschende aus verschiedenen Universitäten und Fachbereichen beteiligt: Prof. Dr. Asta Vonderau (Professur für Ethnologie und Vergleichende Soziologie, MLU), Prof. Dr. Isabel Steinhardt (Professur für Bildungssoziologie, Universität Paderborn) und Dr. Hannes König (Zentrum für Schul- und Bildungsforschung, MLU).

Wir sprachen mit Dr. Roland Bloch über aktuelle Zwischenergebnisse des digihub.org-Projekts.

Ausgangspunkt Ihres Projekts war die Umstellung auf Online-Lehre während der Corona-Pandemie – also eine Erfahrung, die alle Lehrenden und Studierenden an deutschen Universitäten und Hochschulen gemacht haben. Wie sind Sie vorgegangen, um diesen umfassenden Wandel empirisch zu erforschen?

Foto von Roland Bloch
Dr. Roland Bloch (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Dr. Roland Bloch: Das Projekt integrierte ethnologische, soziologische und erziehungswissenschaftliche Perspektiven. In drei Teiluntersuchungen wurden die Interaktionen zwischen den involvierten Akteuren – Hochschulen, Lehrende, Studierende – unter den Bedingungen der Digitalisierung von Hochschulbildung rekonstruiert. Digitale Technologien wurden dabei immer als Bestandteil der Interaktionen mitgedacht und analysiert.

Die Teiluntersuchungen des Organisierens, Lehrens und Lernens fungieren als qualitative „Tiefenbohrungen“, die aus einer ganzheitlichen und interdisziplinären Perspektive aufeinander bezogen und interpretiert werden. Als Hintergrundfolie dient die quantitative Bestimmung des Anteils von Online-Lehrveranstaltungen am Lehrangebot.

Durchgeführt wurden organisationsbezogene Fallstudien an zwei Universitäten, problemzentrierte Interviews mit 21 Lehrenden an drei Universitäten, Sequenzanalysen von 12 Online-Lehrveranstaltungen sowie drei Gruppendiskussionen mit 15 Studierenden. 

Das Lehrangebot von 17 Universitäten wurde über die digitalen Vorlesungsverzeichnisse mittels eines eigenen Webcrawlers erhoben. Die Erhebung wurde nur an solchen Universitäten durchgeführt, die in ihren digitalen Vorlesungsverzeichnissen ausweisen, ob eine Lehrveranstaltung online angeboten wird. Wir haben die Erhebung zu zwei unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt, um Veränderungen im Zeitverlauf sichtbar zu machen. Im Sommersemester 2022 wurden insgesamt 50.189 Lehrveranstaltungen an 17 Universitäten und im Sommersemester 2023 dann 44.009 Lehrveranstaltungen an 16 Universitäten erhoben.

Eine zentrale Frage in Ihrem Projekt war, ob der Digitalisierungsschub die universitäre Lehre und das Lernen nachhaltig verändert haben. Können Sie die Ergebnisse kurz zusammenfassen? Gibt es dabei etwas, das Sie besonders überrascht hat? 

Dr. Roland Bloch: Unseren Untersuchungen zufolge ergeben sich drei Hauptergebnisse:

1. Periphere Akteure wurden aufgewertet, aber es gab keine Verstetigung von neuen Strukturen. In der Pandemie wurden vermehrt Akteure wahrgenommen und wertgeschätzt, die im normalen Universitätsbetrieb relativ peripher sind, z.B. IT-Einrichtungen oder Hochschuldidaktische Zentren. Durch enge Koordination und Vernetzung ermöglichten sie den reibungslosen Ablauf der Online-Lehre. Dadurch entstand für sie ein massiver Mehraufwand, der aber sowohl innerhalb der Universitäten als auch in der breiten Öffentlichkeit überwiegend unsichtbar blieb. Neue Lösungen und Strukturen wurden daher nach der Pandemie nur bedingt verstetigt. Stattdessen investieren Universitäten nun in weniger aufwändige, dafür aber öffentlichkeitswirksamere Aktivitäten wie strategische Leitbilder.

2. Es gibt kaum Anreize für Lehrende, digitale Elemente in ihre Lehre zu integrieren. Lehrende, die sich bereits vor der Pandemie in der Lehre engagierten, sind auch diejenigen, die weiterhin digitale Elemente integrieren. Ihr Lehrhabitus erweist sich als stabil, wobei dies auch für jene Lehrenden gilt, die keine digitalen Technologien nutzen. Die fast vollständige und überwiegend begrüßte Rückkehr zur Präsenzlehre führte dazu, dass eine Reflexion von Erfahrungen mit der Online-Lehre ausblieb.

3. Es gibt kaum Unterschiede zwischen Online- und Präsenzlehre im Kerngeschäft der Lehrveranstaltung. Die aktiven Lehr-Lern-Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden werden überraschenderweise von der Online-Lehre kaum tangiert. Sichtbarer als im Seminarraum wird allerdings eine studentische Passivität in Form „schwarzer Kacheln“, die das hochschuldidaktische Handeln vor verschärfte Herausforderungen stellt.

Wie digital sind denn im Schnitt die Universitäten, die Sie untersucht haben, unterwegs?

Dr. Roland Bloch: Die Erhebung der Anteile der Online-Lehrveranstaltungen am gesamten Lehrangebot von 17 staatlichen Universitäten zeigt einen drastischen Rückgang. Lag der Anteil von Online-Lehrveranstaltungen im Sommersemester 2022 im Mittel noch bei 11,7 Prozent, so war es ein Jahr später nur noch 4,5 Prozent. Dabei variierten die Anteile erheblich zwischen den Universitäten, während einzelne Faktoren wie beispielsweise das Fach keinen Einfluss hatten.

Der reine Online-Lehrbetrieb während der Corona-Zeit war ja eine Notlösung und kein didaktisch wünschenswerter Schritt, auch nicht für diejenigen, die den Einsatz digitaler Medien in der Lehre befürworten. Welche Anreize für die Digitalisierung der Hochschullehre gibt es denn nach Ihren Untersuchungen?

Dr. Roland Bloch: Wahrscheinlich könnte Ihnen jede Lehrende und jeder Lehrende auch positive Aspekte nennen, die eine Digitalisierung der Hochschullehre sinnvoll erscheinen lassen. Grundsätzlich findet eine solche Diskussion angesichts einer Rückkehr zum „business as usual“, wie es eine interviewte Person ausdrückte, aber nicht statt. Nur so ließen sich aber gerade auf der Grundlage der in der Pandemie gemachten Erfahrungen konkrete, primär inhaltlich-didaktische Anreize für die Integration digitaler Elemente in die Hochschullehre formulieren. Eine solche differenzierte Diskussion wäre mehr als wünschenswert.

Haben die Veränderungen durch die Digitalisierung Ihrer Untersuchungen nach dazu geführt, dass sich das Verständnis von der Konzeption „guter Lehre” und einem „erfolgreichen Studium” verändert hat?

Dr. Roland Bloch: Der Hoffnung auf einen nachhaltigen Digitalisierungsschub von Studium und Lehre folgte vielerorts Ernüchterung. Die fast vollständige und überwiegend begrüßte Rückkehr zur Präsenzlehre führte dazu, dass wenig darüber reflektiert wurde, welche Erfahrungen mit der Online-Lehre gemacht wurden und worauf sich aufbauen lässt. Dies passt zu einer generell nachgeordneten Bedeutung von Lehrleistungen im akademischen Betrieb.

In Ihrer Ergebnisdarstellung erwähnen Sie auch „nicht-intendierte Effekte” durch die Digitalisierung. Was meinen Sie damit?

Dr. Roland Bloch: Anstatt Prozesse zu rationalisieren, erzeugte die Digitalisierung zunächst einmal einen erheblichen Mehraufwand. Das wurde in der Ausnahmesituation der Pandemie an den Universitäten mehr als deutlich. Es war eben nicht so, dass die Digitalisierung so reibungslos funktionierte, wie sie es als Technologie suggeriert. Vielmehr mussten eine Reihe von Akteuren und Technologien miteinander interagieren und ihre Arbeit koordinieren. Viele Lösungen hatten nur einen ad-hoc-Charakter - vor allem die „Übersetzung” der Lehre in Online-Formate.

Nach dem Wegfall der pandemiebedingten Einschränkungen ist man dann fast komplett zur Präsenzlehre zurückgekehrt. Und zwar gerade weil man gesehen hat, mit welch erheblichem Aufwand die Digitalisierung verbunden ist – ein Aufwand, der Rationalisierung als Merkmal von Digitalisierung grundsätzlich in Frage stellt. Diese Wahrnehmung schiebt sich vor jene Potentiale für Qualitätsverbesserungen in Studium und Lehre, die man durchaus erkannt hatte (z.B. Flexibilität, Barrierefreiheit etc.), aber für deren Umsetzung man keine zusätzlichen Ressourcen aufwenden konnte oder wollte.

Was ist für Sie das Fazit aus Ihrem Projekt? Was würden Sie Lehrenden, Hochschulleitungen oder auch der Politik raten, um die zukünftige Digitalisierung in der Hochschullehre konstruktiver und produktiver zu gestalten?

Dr. Roland Bloch:
Die Ergebnisse legen die folgenden Handlungsansätze nahe:
Digitalisierung benötigt stabile Organisationsstrukturen. Nur so kann eine Grundlage für Aktivitäten geschaffen werden, die gerade durch die Integration unsichtbar bleibender Arbeit immer mit einem erheblichen Mehraufwand verbunden sind. Klare Zuständigkeiten und sichere Ressourcen bestärken Universitäten darin, diesen Weg zu gehen.

Zugleich erfordert ein solches Vorgehen die kritische Reflexion von Rationalisierungsnarrativen, damit Digitalisierung nicht mit Erwartungen überfrachtet wird. Der Mehraufwand sollte anhand einer ganzheitlichen Bestandsaufnahme realistisch bestimmt werden. Dann können auch Anreize präzise gesetzt werden. Ebenfalls ermöglicht eine solche Bestandsaufnahme es, das Potential digitaler Hochschulbildung zu bestimmen, und zwar nicht als Ersatz von, sondern in Relation zur Präsenzlehre. Damit wird dann auch deutlich, dass es nicht darum geht, das eine durch das andere zu ersetzen.

Auf der inhaltlichen Ebene ist es erforderlich, das Curriculums zu flexibilisieren und so für gesellschaftliche Veränderungen zu öffnen. Bislang tun dies Lehrende allenfalls informell.
Darüber hinaus sollten auch die rechtlichen und politischen Vorgaben für die Hochschullehre flexibilisiert werden, damit diese Digitalisierung ermöglichen und nicht verhindern. 
Schließlich ist die Digitalisierung von Hochschulbildung kein Selbstläufer, sondern erfordert Anpassungen und Übersetzungen der Lehrformate. Diese sollten auf der Grundlage einer hochschuldidaktischen Reflexion von Online-Lehrveranstaltungen wahrgenommen werden.

Insgesamt erfordert die nachhaltige Digitalisierung von Hochschulbildung eine konzertierte Aktion aller involvierten Akteure, wie sie bislang nur im Gelegenheitsfenster der Pandemie kurzzeitig möglich gewesen war.

Ihr Projekt ist sowohl für die Hochschulen als auch für Politik und Gesellschaft hochrelevant.
Gibt es noch Forschungsdesiderate und offene Fragen – oder auch weitere Pläne?

Dr. Roland Bloch: Empfehlenswert ist ein dauerhaftes Monitoring der Digitalisierungsaktivitäten von Hochschulen im Bereich der Hochschullehre, damit hier nicht Absichtserklärungen und Leitbilder organisationale Inaktivität überdecken. Unbedingt erforderlich wäre die Integration von Fachhochschulen in ein solches Monitoring, da diese vermutlich eine größere Affinität gegenüber Innovationen in der Hochschullehre im Allgemeinen und der Digitalisierung von Hochschulbildung im Besonderen aufweisen.

Mittelfristig könnte sich, darauf weisen unsere Ergebnisse hin, ein Trend zu unverbindlicher und individualisierter Partizipation an Bildungsangeboten verstärken. Die Digitalisierung von Hochschulbildung passte dazu, aber eher hinsichtlich einer stärkeren Standardisierung der Bildungsangebote. Inhaltlich-didaktische Potentiale für Innovationen in der Hochschulbildung bleiben so ungenutzt. Hier sollte die Politik entsprechende Anreize setzen, um dem gegenzusteuern.

Weitere Informationen

Interessierte können sich über die diese und weitere, folgende Ergebnisse auf der Projekthomepage informieren.

Beitragende

Dr. Roland Bloch ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Schul- und Bildungsforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg und er ist Verbundleiter des Projektes digihub.org.