360° Bildung – eine Plattform für virtuelle Exkursionen
16.10.2024: Exkursionen bieten aufgrund ihrer Anschaulichkeit und praxisnahen Wissensvermittlungen wertvolle Lerngelegenheiten. Allerdings verhindert der hohe zeitliche, organisatorische und materielle Aufwand oft eine Durchführung, sodass das Potenzial von Exkursionen im Studium selten voll ausgenutzt wird. Hier können virtuelle Exkursionen mit 360°-Technologien Abhilfe schaffen, auch wenn sie die Erfahrung vor Ort nicht völlig ersetzen. In ihrem Erfahrungsbericht stellen Prof. Dr. Heinrich Söbke, Florian Wehking, Mario Wolf und Prof. Dr.-Ing. Eckhard Kraft (alle Bauhaus-Universität Weimar) die Plattform „360° Bildung“ vor, die zahlreiche virtuelle Exkursionen bereitstellt. Dabei gehen sie sowohl darauf ein, wie diese Exkursionen erstellt wurden und welche Funktionen sie enthalten als auch darauf, wie sie in der Lehre und zum eigenständigen Lernen genutzt werden können.
Zum Hintergrund der Plattform
Die Plattform 360° Bildung wurde im Jahr 2020 im Rahmen der Stifterverband-Initiative Wirkung Hoch 100 konzipiert und ist zunächst mit edukativen 360°-Räumen aus dem Umweltingenieurwesen, z. B. dem Wasserwerk Tiefengruben und der Demonstrationstoilette P-Bank zur Rückgewinnung von Phosphor gestartet. Seitdem ist die Plattform kontinuierlich gewachsen und umfasst inzwischen über 15 teils sehr umfangreiche 360°-Räume aus verschiedenen Disziplinen wie dem konstruktiven Ingenieurbau und der biologischen Prozesstechnik. Zur Erstellung der Exkursionen werden mit Hilfe spezieller Kameras Panorama-Bilder aufgenommen, die einen Rundumblick in alle Richtungen ermöglichen. Das Bildmaterial dieser Kameras wird in einem nachgeordneten Prozess, der Postproduktion, zu sogenannten 360°-Räumen zusammengesetzt und mit Annotationen (z. B. Texten, Videos oder Bildern) versehen, so dass auch selbstgeführte Begehungen des virtuellen Raums ermöglicht werden, die dann als Webseiten zur Verfügung stehen und sich ähnlich wir Google Street-View nutzen lassen.
Ursprünglich wurden die Exkursionen auf der kommerziellen Plattform Matterport bereitgestellt; inzwischen basieren die meisten 360°-Räume auf Autorensystemen wie Pano2VR und 3DVista Virtual Tour Pro und ermöglichen damit eine herstellerunabhängige Bereitstellung.
Beispiele, Features und Einsatzgebiete von 360°-Räumen
Einer der umfangreichsten 360°-Räume auf der Plattform ist die Biogasanlage Biothan in Fulda. Sie ist aufgrund ihrer Komplexität in sechs Abschnitte unterteilt. Durch ihre Größe kann diese virtuelle Exkursion als konstituierende Grundlage eines frei verfügbaren Kurses für Anaerobtechnik dienen und wird zukünftig als Bachelor-Grundlagenkurs „Wie entsteht Biogas? – Eine Einführung in die moderne Vergärungstechnologie“ auf dem SDG-Campus, einer Selbstlernplattform zu den 17 Nachhaltigkeitszielen der UN, frei zur Verfügung stehen.
360°-Räume bieten auch die Möglichkeit, weitläufige Gebiete darzustellen und trotzdem Zusammenhänge übersichtlich abzubilden. Dabei helfen u. a. 360°-Drohnenaufnahmen, Drohnenflüge und Zeitrafferaufnahmen. Ein Beispiel für den Einsatz dieser Techniken ist die Exkursion über die Kläranlage Leipzig, bei der die weiten Wege des Abwassers und des Klärschlamms über die Anlage mit Hilfe von Drohnenflügen erklärt werden. Auch die 360°-Exkursion durch das neue Siedlungsgebiet Jenfelder Au in Hamburg, in dem es um den Einsatz neuartiger Sanitärsystem und die Abwasserbehandlung direkt vor Ort geht, ist als Areal sehr groß und wird mit Hilfe unterschiedlichster Techniken detailliert erklärt. Zum Beispiel werden in der Pumpstation durch Signaling die einzelnen Bauteile und die Wege des Wassers markiert.
Neben der Lehre ist Wissenschaftskommunikation ein weiteres Einsatzgebiet von 360°-Räumen. Beispielsweise wird in der 360°-Exkursion zum Forschungsprojekt OLE – Organisation ländlicher Energiekonzepte eine ganze Modellregion vorgestellt, in der der im Projekt entwickelte Masterplan zur effizienten Nutzung vorhandener Energieressourcen direkt an den weit verstreuten Standorten erläutert wird.
Umsetzung
Für welche Themengebiete eignen sich virtuelle Exkursionen?
Die derzeit verfügbaren Exkursionen stammen aus dem Bereich des Umweltingenieurwesens, einer Disziplin zur Gestaltung von technischer Infrastruktur in und mit der Umwelt. Generell sind jedoch alle realweltlichen Disziplinen geeignet, in denen Lernen an konkreten physikalischen Objekten oder in der physikalischen Realität im Vordergrund steht. Dazu zählen beispielsweise Architektur, Maschinenbau, aber auch Geschichte.
Was wird zur Erstellung einer virtuellen Exkursion benötigt?
Für die Erstellung eines 360°-Raumes sind folgende Elemente bzw. konzeptionellen Überlegungen notwendig:
- Ein geeignetes real existierendes Exkursionsziel, das die anvisierten Lernziele unterstützt und von dem Aufnahmen gemacht werden können / dürfen.
- Ein didaktisches Konzept, d. h. eine Übersicht der Lernziele, die mit den verschiedenen Stationen des Exkursionsziels („Points of Interests“) verbunden sind sowie entsprechende textuelle Lernmaterialien, Bilder, Grafiken und Videos (wenn zweckdienlich).
- Eine 360°-Kamera für die Aufnahmen. Grundsätzlich lassen sich mit Consumer-Kameras (z. B. der Insta360 One-X-Reihe oder von ähnlichen Herstellern) ausreichend gute Aufnahmen erstellen. Höherwertige Kameras (z. B. die Insta360 Pro 2), haben Vorteile in der Bedienung und der Bildqualität und bieten auch einen steresokopischen Aufnahmemodus an, jedoch ist die Postproduktion dementsprechend aufwändiger.
- Postproduktionstools, die zur Bildnachbearbeitung nötig sind, wie Insta360Stitcher zum Zusammensetzen der Aufnahmen und Adobe Photoshop oder Affinity Photo zur etwaigen Bildkorrektur und Retusche. Für den Einstieg reichen die mit der Kamera gelieferten Werkzeuge.
- Ein Autorensystem (z. B. 3DVista Virtual Tour Pro), mit dem aus den Aufnahmen die 360°-Räume zusammengebaut und mit didaktischen Annotationen ergänzt werden. Mit diesen Systemen können abschließend die Rundgänge als Webseiten oder mit weiterer Anpassung als Virtual-Reality-Versionen exportiert werden.
Für diesen Prozess ist ein/e Mitarbeiter/in erforderlich, der/die ein gutes Gespür für die Erstellung der Aufnahmen und das Postprocessing mitbringt – aber auch hier gilt: Übung macht den Meister oder die Meisterin. Die Grundlagen der Erstellung von 360°-Räumen als Basis für virtuelle Exkursionen haben wir in Wehking, Wolf & Söbke, 2022 beschrieben; sie können zudem im Onlineseminar 360° Bildung: Virtuell vor Ort Lernen der OER-Plattform QUADIS der Universität Bayreuth erlernt werden (Wehking & Söbke, 2023). Dort steht auch eine ausführliche Checkliste zur Erstellung von 360°-Rundgängen zur Verfügung.
Einbindung virtueller Exkursionen in die Lehre
Virtuelle Exkursionen lassen sich sehr vielfältig in der Lehre einsetzen. Unserer Erfahrung nach ist eine der wichtigsten Unterscheidungen die zwischen dozierendengeführter und selbstgeführter Nutzung:
- Dozierendengeführte virtuelle Exkursionen können beispielsweise in einer synchronen Lernsituation (etwa einer Vorlesung) per Beamer dem ganzen Auditorium präsentiert werden. Weitere Möglichkeiten sind der Einsatz in hybriden Lernräumen (Söbke & Kraft, 2024) für hybride Veranstaltungen oder per Videokonferenzsystem in reinen Online-Veranstaltungen.
- Selbstgeführte Exkursionen lassen sich als Hausaufgaben oder Vorbereitung von realen Exkursion in die Lehre einbinden (Söbke & Kraft, 2024). Bei freiwilligen Aufgaben haben wir mit der Belohnung durch Zusatzpunkte für die abschließende Kursprüfung gute Erfahrungen gemacht (Wolf et al., 2021). Ebenfalls positiv auf den Lernerfolg scheint sich die Durchführung der virtuellen Exkursionen in Kleingruppen von 2-4 Lernenden auszuwirken (Wolf et al., 2023).
Eine weitere wichtiger Aspekt ist das Endgerät, mit dem die Rundgänge betrachtet werden. Handelt es sich um ein Head-Mounted-Display (HMD), spricht man von immersiven virtuellen Rundgängen. Wird ein PC, ein Notebook oder ein Tablet genutzt, handelt es sich um einen virtuellen Desktop-Rundgang. Dabei ist zu beachten, dass einige Autorensysteme (z.B. 3DVista Virtual Tour Pro) gezielt ausführbare Dateien für das jeweilige Endgerät produzieren, d. h. im Authoring-Prozess wird festgelegt, welche Endgeräte unterstützt werden. Für den Einsatz auf einem HMD muss ein zuvor erstellter Rundgang dann noch einmal gezielt angepasst werden. Mit der Nutzung von HMDs verliert die Lernaktivität zugleich an Niedrigschwelligkeit, da die Hardware vorhanden sein oder bereitgestellt werden muss. Gleichzeitig gewinnt die Lernerfahrung aber in der Regel durch eine höhere Immersion an Intensivität, z. B. mit Hilfe von stereoskopischen 360°-Bildern und direktionalem Hintergrundton.
Bereitgestellt und organisiert werden die virtuellen Exkursionen in der Regel über das Lernmanagementsystem, in unserem Falle Moodle. Dort lassen sich die Links zu den 360°-Räumen hinterlegen, die Gruppenfindung organisieren, Zeitslots reservieren und Tests für die Zuteilung der Zusatzpunkte durchführen.
Evaluationsergebnisse und Weiterentwicklung
Wir haben den Einsatz verschiedener virtueller Exkursionen in der eigenen Lehre wissenschaftlich begleitet. Methodisch haben wir dazu Pre- und Posttests durchgeführt, Lernervoraussetzungen wie Emotion und Motivation, Social Presence oder Cognitive Load abgefragt sowie auch semistrukturierte Interviews mit den Studierenden und auch den Lehrenden durchgeführt. Im Ergebnis konnte der offensichtliche Lernerfolg bestätigt werden, die Lernervoraussetzungen waren als gut anzusehen und die virtuellen Exkursionen waren sowohl bei Studierenden als auch Lehrenden sehr akzeptiert. Die Ergebnisse wurden veröffentlicht, u. a. in Söbke & Kraft, 2024; Wolf et al., 2021; Wolf et al., 2023; Wolf et al., 2024.
Im Folgenden werden einige mögliche Weiterentwicklungen beschrieben, die die Effizienz und den Umfang von virtuellen Exkursionen in Zukunft weiter verbessern können.
- Einbindung von digitalen und 3D-Modellen. In einigen Disziplinen, etwa dem konstruktiven Ingenieurbau, ist die Visualisierung von Gebäuden ein wichtiger Aspekt, allerdings sind die Abstraktionen dieser Gebäude, wie z. B. statische Modelle von Gebäuden, gleichfalls relevant für den Lernerfolg. Entsprechend wird an einer Integration von 360°-Räumen mit weiteren 3D-Modellen gearbeitet, um das Lernen am Objekt weiter aufzuwerten.
- Leistungsstärkere Kameras. Die Geräte zur Bildgebung, z. B. Kameras und Scanner, unterliegen einer stetigen Weiterentwicklung. Der Einsatz von moderneren Geräten führt in der Regel zu Vorteilen, so hat bei uns die Ablösung der Insta360 One X durch die Insta360 Pro 2 zu einer starken Rationalisierung des Aufnahmeprozesses bei gleichzeitiger merklicher Steigerung der Bildqualität geführt. Weitere denkbare Ansätze sind der Einsatz von Scannern zur Generierung von Punktwolken oder die Nutzung von Robotern, z. B. Spot von BostonDynamics zur automatisierten Gewinnung von Bildmaterial.
- Chatbots. Large Language Model-basierte Chatbots haben sich in ersten Pilotstudien als sehr effizient bei der Unterstützung von Lernenden in 360°-Räumen erwiesen, insbesondere bei selbstgeführten Exkursionen.
- Social VR. Social VR sind auch positive Wirkungen auf den Lernerfolg zuzuschreiben. Pilotstudien haben allerdings gezeigt, dass hierfür multi-user Plattformen wie die inzwischen eingestellte Plattform Mozilla Hubs notwendig sind, die auch 360°-Räume aufnehmen können (Kalvakolu et al., 2024).
- Gamifizierung. Die reine Exploration von 360°-Räumen gilt für einen Teil der Lernenden als anspruchsvoll (Wolf et al., 2021). Entsprechend könnte Gamification zu einer besseren Motivation für virtuelle Exkursionen genutzt werden. Eine Pilotstudie konnte zeigen, dass dieser Ansatz sinnvoll ist (Wolf et al., 2024) und den rein explorativen Ansatz ergänzen, allerdings nicht ersetzen kann, da einige Lernende dann doch wieder lieber rein exploriert hätten. Die Integration von Quizfragen in virtuelle Exkursionen können die Aufmerksamkeit zudem weiter steigern und dabei gleichzeitig helfen das erlernte Wissen zu festigen.
Zusammenfassung
360°-Technologie hat die Erstellung von virtuellen Exkursionen erheblich vereinfacht. Die Plattform 360° Bildung stellt eine Reihe von 360°-Räumen zur Durchführung von virtuellen Exkursionen bereit, die sich unkompliziert durchführen lassen und im Vergleich zu realen Exkursionen erheblich weniger zeit-, organisations- und ressourcenaufwändig sind. Zugleich führen sie zu unmittelbaren Lernerfahrungen, die denen von realen Exkursionen zwar in einigen Teilen nachstehen, in anderen Teilen jedoch reale Exkursionen sogar übertreffen, beispielsweise durch die Möglichkeit einer zeit- und ortsabhängigen Wiederholung. Insgesamt führen virtuelle Exkursionen zu einer qualitativen Bereicherung der Lehre und lassen sich, falls passende Exkursionen für die eigene Lehre fehlen, mit etwas Geschick und Zeit auch selbst erstellen. Dazu möchten wir vor dem Hintergrund unserer Erfahrungen ausdrücklich ermutigen.