Hochschullehre durch Digitalisierung stärken – ein Interview zu Förderprogramm und Projektauswahl
21.07.2021: Prof. Dr. Ulrike Cress, Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien (IWM), war als Mitglied des Auswahlgremiums an der Entscheidung beteiligt, welche Projektvorhaben ab August 2021 im Rahmen der Förderbekanntmachung „Hochschullehre durch Digitalisierung stärken“ durch die Stiftung Innovation in der Hochschullehre gefördert werden. Im e-teaching.org-Interview hat Mareike Kehrer mit ihr über das Auswahlverfahren, den Stand der Digitalisierung in der Hochschullehre und innovative Projektvorhaben gesprochen.
Dieser Podcast ist Teil des Erfahrungsberichts „Hochschullehre durch Digitalisierung stärken – ein Interview zu Förderprogramm und Projektauswahl.
Transkript
Im e-teaching.org-Interview spreche ich heute mit Professor Dr. Ulrike Cress. Ulrike Cress ist Direktorin des Leibniz-Instituts für Wissensmedien in Tübingen, kurz IWM, und Professorin an der Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie. In ihrer Arbeit befasst sie sich intensiv mit der Digitalisierung im Bildungsbereich. Als wissenschaftliche Leitung unseres Portals e-teaching.org hat sie dabei insbesondere einen sehr guten Einblick in den Digitalisierungsprozess im Bereich von Studium und Hochschullehre. Ulrike, du warst als Mitglied des Auswahlgremiums an der Bewertung und der Auswahl der Projektvorhaben für die erste Förderbekanntmachung der Stiftung Innovation in der Hochschullehre beteiligt. Was hat dich an dieser Aufgabe besonders gereizt?
Ulrike Cress: Ich fand es sehr spannend, in einer Ausschreibung bzw. einer Auswertung dabei zu sein, in der alle Hochschulen Deutschlands angesprochen sind, in der sich die gesamte Hochschullandschaft aufstellen kann und jede Hochschule die Art von Weiterentwicklung, Innovation darstellen konnte, die für sie gerade die Richtige ist. Und damit waren auch alle Hochschultypen von der HAW über große Universitäten, über Forschungsuniversitäten beteiligt. Und es ging darum, die gesamte Hochschullandschaft in Deutschland zu digitalisieren, weiterzubringen. Und das empfand ich als eine Aufgabe, die im Moment auch wirklich angesagt ist, dass man nach 20 oder 30 Jahren kleinere Projektförderungen nun im Großen anhebt und sagt, wie kann man die Hochschulen insgesamt stark auf den Weg bringen. Und das habe ich mit dieser Hochschulen-Ausschreibung auch verbunden.
Die Nachfrage war ja auch sehr groß. Es gab insgesamt 264 Projekteinreichungen. Wenn man jetzt überlegt, solche 264 Einreichungen zu begutachten ist ja durchaus eine Mammutaufgabe. Wie kann man sich die Arbeit des Auswahlgremiums vorstellen, wenn man überlegt, das war coronabedingt dann natürlich alles online: Wie ist es abgelaufen?
Ulrike Cress: Es war tatsächlich eine Mammutaufgabe. Ich konnte es mir vorher auch nicht vorstellen, wie man 264 Anträge gemeinsam fair behandeln kann. Es war so, dass wir sehr sehr gute Vorarbeit hatten von der Stiftung, aber auch natürlich von den Gutachtenden. Das heißt, wir hatten im System Zugang zu allen Anträgen, zu allen Gutachten und zu einem Bewertungssystem, das ja schon vorgegeben war in der Ausschreibung, das sehr standardisiert war, wo wir von den Gutachten auch ganz klare Ratings und Ergebnisse hatten. Und wir haben uns an die DFG-Richtlinien gehalten, das heißt eine Arbeitsteilung von Begutachtung durch Gutachter, Bewertungen durch uns im Auswahlverfahren und Entscheidungen dann zusammen mit den Geldgebern. Das heißt, wir konnten uns und sollten uns wirklich auf die Gutachten stürzen. Und die Gutachter bzw. Gutachtenden wurden sorgfältig ausgewählt nach Personen, die wirklich Erfahrung mit E-learning hatten, Lehrpreise bekommen hatten auf professoraler Ebene, auf Mittelbau-Ebene, aber auch auf Studierenden Ebene. Und diese Gutachtenden wurden geschult auch von uns, wie sie solche Gutachten zu erstellen haben und das war für uns eine sehr sehr gute Basis, auf der wir dann agieren konnten.
Und dann sah es so aus, dass wir diese Gutachten quasi als Ausgangspunkt hatten. Projekte, die im oberen Drittel der Gutachten waren, haben wir durchgewunken und Projekte im unteren Drittel haben wir durchgewunken und die Projekte, die gemischte Gutachten erhalten hatten, die sind wir dann wirklich im Einzelnen durchgegangen, haben die Gutachten gelesen, hatten nochmal versucht, zu eruieren, was macht die unterschiedliche Sichtweise der einzelnen Gutachter aus und wie können wir diese Sicht der Gutachter wirklich umsetzen in eine Förderempfehlung oder auch in eine Nicht-Empfehlung. Wir sind dann wirklich alle einzelnen Anregungen durchgegangen, wo es um Streichungen von Finanzen ging und hatten da versucht, jedem einzelnen Projekt wirklich gerecht zu werden, was erstaunlicherweise sehr gut geklappt hat, auch daraufhin, dass wir zum Schluss geschaut haben: Sind Hochschularten gut vertreten, sind Bundesländer gut vertreten? Das war erst ein Punkt, den wir zum Schluss angeschaut hatten und wir waren alle sehr begeistert und positiv, dass wir hier das Gefühl hatten, da wurde auch eine letztendlich gute Verteilung über die verschiedenen Kategorien hinweg erreicht.
Jetzt dürften ja auch die eingereichten Projektvorhaben einen relativ guten Eindruck davon vermittelt haben, wo die Hochschulen im Bereich der Digitalisierung von Studium und Lehre für die nächsten Jahre ein besonderes Innovationspotential sehen. Welche Entwicklungen siehst du auf dieser Basis für die kommenden Jahre? Zeichnen sich da vielleicht auch neue Trends ab?
Ulrike Cress: Zunächst einmal war ich sehr positiv überrascht und habe gedacht, die Digitalisierung ist doch mehr an den Hochschulen angekommen, als wir es manchmal befürchtet hatten, das heißt die Hochschulen haben für sich Themen wahrgenommen, entdeckt, die wirklich relevante Themen sind und erreicht, dass die Digitalisierung auf einer breiten Basis in der Hochschule aufgestellt wird. Da war auch immer die Frage, was ist Innovation für jede Hochschule? Kann Innovation auch etwas anderes sein? Uns ging es immer darum, dass die Hochschule den nächsten Schritt geht und das spannende war, dass sich auch kleine Hochschulen sehr sehr stark auf den Weg machen, auch sehr stark fachspezifische Themen angehen. Das fand ich sehr sichtbar, dass Musikhochschulen sich fragen, wie können sie digitale Lehre machen. Polizeihochschulen, … dass die Sportwissenschaft sich fragt… Das heißt, da ist wirklich eine Konkretisierung dieser digitalen Lehre auf die spezifische Hochschule, auf die spezifischen Fächer. Auch das übergreifende, die Hochschulkooperationen, ist ein Aspekt, der gut ins Laufen kommt, dass die Hochschulen von sich aus erkennen: nicht die einzelne Entwicklung macht es aus, sondern eigentlich die gemeinsamen Strukturen, an denen man zum Teil auch länderübergreifend, aber auch über Hochschultypen übergreifend, arbeitet.
Und dann sind viele Themen angekommen, die wir auch als Experten quasi vorne sehen, sowas wie virtuelle Labore, wie digitale Prüfungsformate, hybride Formate. Dass man nach Corona entdeckt, es geht nicht nur um Digitalität oder digitale Formate, sondern es geht um das gemeinsame nebeneinanderher von Präsenz und Digitalem. Selbststudium ist wichtig, Mentoring ist wichtig. Studierenden Zentrierung war mir sehr bewusst, dass das in ganz ganz vielen Projekten beschrieben wurde, Kollaboration, Partizipation, also so ein bisschen ein neuer Geist in der Lehre und in dem Blick auf Studierende und studentisches Lernen. Das sind alles keine ganz neuen Themen, aber es war doch, fand ich, interessant, dass sie so im großen Ausmaß jetzt auch wirklich in der Lehre umgesetzt und diskutiert werden.
Du hast gerade auch schon Corona angesprochenen, auch die Zeit nach Corona. Jetzt hat sich durch die Corona-Pandemie auch die Hochschullehre wirklich massiv verändert. Seit mittlerweile drei Semestern findet die Lehre nahezu vollständig online statt, dadurch haben sich auch Studierende, Lehrende, viele weitere Akteure an den Hochschulen dann intensiv mit dem Einsatz, aber auch der Rolle digitaler Medien in Studium und Lehre beschäftigt. Hast du den Eindruck, dass sich das Verständnis beziehungsweise die Wahrnehmung digitaler Lehre dadurch verändert hat?
Ulrike Cress: Ich habe das Gefühl, dass sie ganz deutlich an Gewicht gewonnen hat und dass Hochschulen jetzt auch wirklich über Erfahrungen verfügen und zwar nicht nur die einzelnen Hochschullehrenden, die bisher schon sehr aktiv waren, sondern wirklich auch in der Breite, auch dass die Hochschulleitungen sich mehr zur digitalen Lehre bekennen und das finde ich einen sehr großen Schritt. Das heißt, die Kompetenzen wurden gestärkt, es wurde das Bewusstsein auch gestärkt, dass es Strukturen braucht, von der Ausstattung, von Formaten, von fächerübergreifenden Dingen, da sind wir ein Stück weitergekommen. Es wurde auch das Bewusstsein, glaube ich,
gestärkt, dass es allein dieses verteilte Lernen, dieses Remote Learning, nicht sein kann, sondern dass es wirklich um Formate geht, die face-to-face und digital verknüpfen.
Wenn wir nochmal auf die Förderbekanntmachung zurückkommen: Gab es etwas an den Projektanträgen, an den eingereichten Ideen, den Vorhaben, was dich besonders beeindruckt hat?
Ulrike Cress: Sowohl bei den Anträgen als auch beim Auswahlgremium hatten die Studierenden einen relativ großen Einfluss. Das heißt, die Studierenden waren auch bei uns im Projektauswahlausschuss vertreten, hatten jedes Projekt mit begutachtet und waren bei uns im Gremium sichtbar. Und in deren Argumentation ist mir nochmal sehr klar geworden, dass Studierende auch schon bei der Projektentwicklung eine viel größere Rolle haben müssten. Das heißt, wir als Psychologen und Psychologinnen haben natürlich auch immer Lernverhalten untersucht, hatten auch Studierende untersucht, was ändert sich durch digitale Lehre im Studieren, im Lernen. Ich hatte bisher, muss ich sagen, wenig auch diese systematische Perspektive, dass man bei Projektbeginn schon diese Studierendensicht in den Blick nimmt und auch solche organisationale Rahmenbedingungen aus Studierendensicht betrachtet.
Und das wäre etwas, wo ich denke, das hat mich ein Stück weitergebracht und ich glaube, da müssen wir insgesamt noch weiter gehen, dass wir sagen, Studierende sind nicht nur Experten für Einzel- bzw. eigenes
Studierendenverhalten, sondern auch quasi für das ihre Peers, ihrer Altersgruppe und sie können wertvolle Beiträge leisten, was denn gute Lehre, was denn gutes Lernen ausmacht.
Gibt‘s darüber hinaus auch noch was, was du jetzt zum Beispiel für die Forschung am IWM mitnehmen würdest, aus dem was du so gesehen hast an Projektanträgen?
Ulrike Cress: Ich glaube, das wäre auch etwas, was in die Forschung rein könnte, zu sagen, man müsste frühzeitig mit Studierenden als Experten quasi in interne Projektplanung gehen. Das heißt nicht nur Hochschuldidaktiker und -didaktikerinnen, nicht nur Fachexperten, wie es halt die Professoren und Professorinnen sind, sondern auch diejenigen, die wirklich das Lernen bisher vertreten und die gerade im digitalen Bereich doch oft immer noch weiter sind wie ihre Lehrenden. Das heißt, das wäre für mich ein Aspekt, den die Forschung stärker aufgreifen könnte, im Sinne von so einer kollaborativen partizipativen Projektplanung, in welchem Bereich diese Studierenden ihre Expertisen schon vor dem Projekt einbringen können und sollten und wo da dann auch wiederum die Grenzen jeder einzelnen Expertise sind, wie gesagt und da ist der Bereich der Fachexperten, der Didaktik-Experten und der Experten für Lernen glaube ich eine relevante Größe.