Abstimmungssysteme (Didaktik)
Im besten Fall ist das Zuhören in einer Vorlesung ein aktiver Lernprozess. Doch gerade in großen Veranstaltungen verlieren Studierende leicht den Anschluss oder lassen sich ablenken, und auch für Lehrende ist es schwierig, den Kenntnisstand der Studierenden einzuschätzen. Um hier Abhilfe zu schaffen, werden immer häufiger Votingtools eingesetzt.
Solche Abstimmungssysteme sollen die Lehrenden in Vorlesungen auf folgende Weise unterstützen: Die Lehrperson stellt den Studierenden eine oder mehrere Fragen, zumeist Einfach- oder Mehrfachauswahlfragen (Single oder Multiple Choice). Die Studierenden übermitteln ihre Antworten mit einem sogenannten Clicker, der einer klassischen Fernbedienung ähnelt, oder mit einem internetfähigen Mobilgerät wie etwa ihrem Smartphone, Tablet-Computer oder Laptop. Das Abstimmungssystem erfasst die Antworten und stellt die Ergebnisse unmittelbar im Anschluss auf dem Präsentationsrechner dar. Lehrende können Abstimmungssysteme beispielsweise benutzen, um während der Vorlesung die Aufmerksamkeit der Studierenden aufrechtzuerhalten, die aktive Beteiligung der Studierenden zu fördern oder mit Methoden wie „Peer Instruction” die Diskussion und Zusammenarbeit zwischen Studierenden im Hörsaal anzustoßen.
Rahmenbedingungen
Die Motivation für den Einsatz von Abstimmungssystemen dürfte in der Vorlesungspraxis praktisch immer darauf zurückgehen, dass typische Merkmale der klassischen Veranstaltungsform kritisch beurteilt werden. Wie schon der aus dem Mittelalter stammende Name besagt, handelt es sich bei Vorlesungen um überwiegend einseitige Aktivitäten von Lehrpersonen, denen die Studierenden allein durch konzentriertes Zuhören zu folgen haben. Dabei fällt es erfahrungsgemäß selbst motivierten Studierenden schwer, einem typischerweise über 90 Minuten andauernden Vortrag, der bestenfalls gelegentlich durch eine Rückfrage unterbrochen werden kann, bis zuletzt aufmerksam zu folgen. Doch selbst wenn die Lehrperson ihren Vortrag dann und wann unterbricht, um mit den Anwesenden über die Inhalte ins Gespräch zu kommen, wird das in der Regel nur wenige Teilnehmer aktivieren. Zu groß sind die Teilnehmerzahlen in vielen Vorlesungen, und es gibt immer eine relativ große Gruppe, die weder Rückfragen stellt, noch sich an einer Diskussion beteiligt.
Lösung
Abstimmungssysteme erleichtern es Lehrenden, die Studierenden aus ihrer typischerweise passiven Zuhörerrolle heraus zu aktivieren und stärker einzubeziehen. Mit Abstimmungssystemen stellen Lehrende Fragen, auf die alle Anwesenden gleichzeitig und zumeist anonym antworten können. Der Nutzen der Technologie liegt in der sofortigen Erfassung und der grafischen Aufbereitung der Antworten, wodurch die Lehrperson auf das Antwortverhalten unmittelbar reagieren kann. Ein weiterer Vorteil liegt darin, dass sich in der Regel auch diejenigen beteiligen, die per Handzeichen oder einem ähnlich sichtbaren Signal nicht auf eine Frage der Lehrperson an das Plenum geantwortet hätten. Indem Lehrende ihren Vortrag durch Interventionen mit einem Abstimmungssystem gelegentlich unterbrechen, sorgen sie allein dadurch für eine gewisse Sequenzierung der eigentlichen Vorlesung. Die Unterbrechungen für die Fragen erfolgen beispielsweise etwa alle 15 Minuten. Diese können dann auch als Impuls für eine Überprüfung und Weiterentwicklung der Vorlesungsstruktur bzw. -gliederung sowie für häufigere Zusammenfassungen genutzt werden.
Details
- Lehrende können Abstimmungssysteme benutzen, um die Aufmerksamkeit der Studierenden während der Vorlesung aufrechtzuerhalten, etwa indem eine neunzigminütige Vorlesung in Blöcke von jeweils gut 15 Minuten Vortrag unterteilt wird. Jedem Vortragsblock würden dann ein oder zwei Fragen folgen – zur Wiederholung, zur Betonung des Lernziels oder ähnlichem.
- Ein naheliegender Ansatz wäre es auch, das System gleich zu Beginn der Vorlesung zu verwenden. So kann beispielsweise mit Wiederholungsfragen auf wichtige Punkte der vorherigen Vorlesung eingegangen werden; oder auf Lerninhalte, die sich die Studierenden zur Vorbereitung selbständig erarbeiten sollten. Damit können Lehrende ein Abstimmungssystem auch in die Methode des Inverted Classroom integrieren.
- Um die Antworten der Studierenden zu erfassen, ist entweder - beim Einsatz von Clickern als Teil des Systems - ein Empfänger an den Präsentationsrechner der Lehrperson angeschlossen. Beantworten die Studierenden die Fragen dagegen mit internetfähigen Mobilgeräten, tun sie dies auf einer hierfür eingerichteten Webseite.
- In jedem Fall erzeugt eine Software unmittelbar nach der Beantwortung einer Frage eine grafische Darstellung der Ergebnisse. Dann zeigt ein Säulendiagramm an, wie viele Personen die jeweiligen Antwortmöglichkeiten ausgewählt haben. Die Software zur Erfassung und Darstellung der Antworten kann auf dem Präsentationsrechner der Lehrperson installiert oder ein Element einer dynamischen Website sein. Verschiedene Systeme bieten auch die Speicherung und damit die nachträgliche Analyse des Antwortverhaltens an.
- Lehrende können mit Abstimmungssystemen auch Meinungen, Einstellungen oder andere persönliche Angaben der Studierenden erfragen und so auf ihr Publikum eingehen. Derart individuelle oder sogar subjektive Rückmeldungen können zum Gegenstand des Vortrags gemacht oder mit Beispielen kommentiert werden. So lässt sich auf Seiten der Studierenden womöglich eine positive „Betroffenheit” erzeugen und der von ihnen subjektiv empfundene Praxisbezug erhöhen. Beides kann der Lehrperson unter Umständen helfen, die Aufmerksamkeit und Motivation der Studierenden aufrecht zu erhalten.
- Mit Abstimmungssystemen können Lehrende die aktive Beteiligung der Studierenden an Diskussionen und die Zusammenarbeit zwischen Studierenden in der Vorlesung fördern, etwa mit dem didaktischen Ansatz „Peer Instruction”. Hierbei beantworten die Studierenden Wissensfragen zunächst allein und das Antwortverhalten wird noch nicht öffentlich sichtbar dargestellt. In einer zweiten Antwortrunde sollen die Kommilitoninnen sich nun zu zweit oder zu dritt beraten und dann gemeinsam antworten. Hier zeigt sich meist ein willkommener Effekt: Die Studierenden kommen über die Inhalte ins Gespräch, sie lernen voneinander, sie „belehren“ sich gegenseitig.
- Abstimmungssysteme erleichtern auch schüchternen oder schwächeren Studierenden, sich einzubringen, sofern sie ihre Rückmeldungen und Antworten anonym abgeben können (Cutts & Kennedy, 2005). Um diesen Effekt zu erzielen, dürfen die einzelnen Abstimmgeräte im Vorfeld also nicht persönlich zugeordnet und registriert worden sein.
- Alternativ kann ein Abstimmungssystem auch bewusst dafür verwendet werden, die Anwesenheit und Identität zu erfassen und Tests durchzuführen. Dies ermöglichen insbesondere die Clicker-basierten Abstimmungssysteme.
- In jedem Fall können Lehrende mit Abstimmungssystemen während der Vorlesung bis zu einem gewissen Grad das Verstehen von Lehrinhalten überprüfen. Oder anders ausgedrückt: Sie können den Studierenden Selbsttests anbieten. Für Lehrende hat das den Vorteil, dass sie ihre Lehre spontan an die aktuellen Lernbedürfnisse der Studierenden anpassen können. Die Studierenden wiederum profitieren, wenn sie erkennen, in welchen Bereichen sie inhaltlich noch unsicher sind. Generell hängen solche Effekte freilich davon ab, inwieweit die Lehrperson ihre Lehrziele im Einzelnen in geeigneten Fragen abbilden konnte.
Stolpersteine
Schon mit der Auswahl und Beschaffung eines Abstimmungssystems sollten einige Stolpersteine bedacht werden, damit das System in didaktischer und organisatorischer Hinsicht den späteren Anforderungen bestmöglich entspricht.
- Sollen die Studierenden mit Clickern abstimmen oder mit ihren Mobilgeräten? Mit Clickern kann sichergestellt werden, dass tatsächlich jede und jeder ein Abstimmgerät erhält und niemand private Ressourcen einsetzen muss. Andererseits ergeben sich wahrscheinlich höhere Anschaffungs- und Wartungskosten sowie ein größerer Aufwand in der Organisation. Setzt die Hochschule dagegen auf ein im Wesentlichen auf einem Webserver basierenden System, bei dem auf einer Website abgestimmt wird, muss die Qualität der Handynetze und/oder des WLANs im Hörsaal bedacht werden.
- Sollen neben Einfach- und Mehrfachauswahlfragen weitere Fragetypen möglich sein? Texteingabe? Rationale Zahlen?
- Manche Systeme ermöglichen es Studierenden, den Lehrenden auch dann Rückmeldungen zu geben, wenn diese eigentlich gerade keine Frage stellen (beispielsweise „ist unklar”, „verstanden”, „langsamer”, „schneller”). Ist diese Option gewünscht?
- Inwieweit soll es möglich sein, das Antwortverhalten der Studierenden individuell nachzuvollziehen, etwa für Tests, und sollen die Ergebnisse auch noch nachträglich analysiert werden können?
- Soll die Software lediglich erfassen und grafisch darstellen, welche Antwortoptionen die Studierenden gewählt haben? Oder soll die Software auch das Anlegen ganzer Fragenkataloge unterstützen? Wie wichtig ist die Integration in PowerPoint?
Wenn das System eine größere Zahl Clicker umfassen soll und diese im Besitz und in der Verwaltung der Hochschule bleiben, können sich die folgenden Fragen stellen:
- Beschafft man genügend Clicker? Es sollte einkalkuliert werden, dass im Zeitverlauf einige Geräte verloren gehen.
- Verbleiben die Clicker im Hörsaal? Falls nicht, wie gelangen die Geräte Woche für Woche dorthin? Bei Systemen mit mehreren Hundert Clickern können beispielsweise Rollkoffer eine Option sein.
- Soll das System teilbar sein, damit es in zwei Vorlesungen zum Einsatz zu kommen kann? Dann sollte bedacht werden, gleich mehrere Empfänger und Transportmöglichkeiten zu beschaffen. Es gibt Rollkoffer, die sich teilen lassen und auf mehreren Etagen herausnehmbare Kästen haben (sogenannte Etagenkoffer).
- Entspricht die Reichweite des Empfängers den Maßen des größten Hörsaals, in dem das System zum Einsatz kommen wird?
Wenn eine Lehrperson in größerem Umfang Fragen für ein Abstimmungssystem oder aber auch für eine Lernplattform entwickelt hat, so ist sie womöglich daran interessiert, diese Fragen auch mit dem anderen System verwenden zu können. Die Anschlussfähigkeit beider Systeme kann daher von großem Interesse sein. Bei der Beschaffung eines Abstimmungssystems wäre demnach zu klären, inwieweit hiermit Fragen nach einschlägigen Standards (etwa QTI) angelegt, importiert und exportiert werden können.
Die Unterbrechungen der Vorlesungen für die Einsätze des Abstimmungssystems sollten gerade eben so kurz sein, wie möglich (gute Kenntnis und Stabilität des Systems, intuitive Bedienbarkeit der Software und ggf. der Abstimmungswebsite, angemessen kurz gewählte Antwortfristen und Auswertungszeit).
Schließlich sollte wie bei jeder Konstruktion von Fragen - was bei Auswahlfragen auch für die Antwortoptionen gilt - im Mittelpunkt stehen, ob die Ergebnisse tatsächlich eine gewisse Aussagekraft haben werden. So ist beispielsweise bei Auswahlfragen zu vermeiden, dass allein Unterschiede in der Länge oder im Stil der einzelnen Antwortoptionen anhand eines Musters erahnen lassen, welche Antwort gefragt bzw. die richtige ist.
Geht die Lehrperson nicht angemessen auf die Ergebnisse von Befragungen oder Abstimmungen ein, kann dies die Akzeptanz auf Seiten der Studierenden verringern.
Vorteile
- Auch in großen Vorlesungen haben alle Studierenden die Möglichkeit, sich inhaltlich zu beteiligen.
- Interaktive Elemente werden integriert und die Vorlesung wird strukturiert.
- Die Lernzielkontrolle kann unterstützt werden.
- Während der Vorlesung werden Selbsttests und regelmäßige Rückmeldung an Lehrende (Lehrevaluation) ermöglicht.
Nachteile
- Zeitlicher Aufwand für die Erstellung der Fragen/Antworten
- Ggf. organisatorischer Aufwand für Beschaffung, Transport, Ausgabe im Hörsaal
- Kosten der Anschaffung und Wartung (bei Clickern: Batterien)
- Insbesondere beim Einsatz studentischer Mobilgeräte: Zeitlicher Aufwand zum Aufrufen der Webseite (QR-Codes und URL-Shortener können helfen)
Beispiele
- Die Meinung der Studierenden über das Abstimmungssystem an der Universität Hamburg wurde im Rahmen einer Langzeitbefragung mittlerweile bereits in einem Dutzend Vorlesungen von diversen Lehrenden erfasst. Die Fragen und Ergebnisse sind im eLearning-Blog der WiSo-Fakultät der Universität Hamburg dokumentiert.
- Wer sich mit dem didaktisch motivierten Einsatz von Abstimmungssystemen in Hochschulen befasst, wird immer wieder auf die didaktische Methode „Peer Instruction“ von Eric Mazur stoßen. Der Physikprofessor der Harvard University beschreibt in einem auf deutscher Sprache erhältlichen Beitrag am konkreten Lehrbeispiel, wie die Methode eingesetzt werden kann.
- Nach eigenen Angaben brachte der Physiker Prof. Dr. Christian Kautz die Idee des Einsatzes von Clickern nach der Methode „Peer Instruction“ 2003 von einem Aufenthalt in den USA nach Deutschland. Die Abteilung Öffentlichkeitsarbeit seiner Hochschule, der TU Hamburg, beschreibt die Erfolgsgeschichte seines didaktischen Engagements.
- Die Vanderbilt University differenziert anschaulich, welche didaktischen Zwecke auf welche Weise mit Abstimmungssystemen verfolgt werden können (Fragetypen, Aktivitäten, Ziele) und benennt Herausforderungen sowie Beispiele.
- Auf e-teaching.org sind bereits mehrere Erfahrungsberichte über den Einsatz von Abstimmungssystemen veröffentlicht: Das MobileQuiz der Univ. Mannheim lässt sich in Präsenzveranstaltungen und über einen QR-Code auch als "Homequiz" nutzen (zum 2014 veröffentlichten Video-Bericht). Über mehrjährige Erfahrungen mit dem Einsatz eines Clickersystems berichtet Prof. Dr. apl. Helmut Wilhelm vom Universitätsklinikum Tübingen (zum 2011 veröffentlichten Video). Stephanie Brachmann thematisiert Vor- und Nachteile eines an der Universität Ulm ebenfalls in der Medizin eingesetzten Votingsystems (zum 2010 veröffentlichten Interview).
- Weitere frühe Beispiele für den Einsatz von Abstimmungssystemen benennen die Artikel „Vorlesung per Knopfdruck” im SPIEGEL (28.01.2008),„Bessere Lehre: Bitte drücken Sie jetzt!” in Zeit online (26.12.2010) sowie der Artikel„Interaktives Lernen: Grüne Muntermacher für die Vorlesung” der Universität Zürich (02.10.2009).
- Alice Jenkins (2007) berichtet von der Verwendung eines elektronischen Rückmeldesystems im Rahmen einer Literaturvorlesung, bei der die Studierenden nach dem Trial-und Error-Verfahren vorgestellte Versmaße erkennen sollten und im Verlauf der Abstimmungen „ein Gehör” dafür entwickelten.
Werkzeuge
Hinweise zu Werkzeugen und Tools finden Sie in der Vertiefung Elektronische Abstimmungssysteme (Technik).
Weitere Informationen:
- Die Abteilung Hochschuldidaktik an der Universität Zürich beschreibt auf ihrer Webseite „Teaching Tools“ die Funktionsweise von Abstimmungssystemen (hier: Classroom Response Systeme; CRS) sowie didaktische Überlegungen. Außerdem werden hier verschiedene Systeme vorgestellt und miteinander verglichen.
- Die Universität Hamburg stellt auf ihrer Webseite eine Ausarbeitung zum Thema „Hörsaal-Abstimmungssysteme“ zur Verfügung.
- Informationen zum Einsatz und zu den Einsatzmöglichkeiten von Voting-Tools in der Lehre finden sich auch im „Downloadcenter für inspirierte Lehre – Lehre laden” der Ruhr-Universität Bochum.
- Die mittlerweile weithin angewandte und vielfach evaluierte Methode Peer Instruction beschrieb Eric Mazur von der Harvard University grundlegend in Mazur, E. (1997), Peer Instruction. A User's Manual, Upper Saddle River, NJ.
- Die Handreichung der Universität Hamburg skizziert den Ablauf der Methode Peer Instruction.
- Die Webseite des Verbundprojekts „Hochschuldidaktik für MINT-Fächer” (HD MINT) informiert über die Methode Peer Instruction und listet diverse Linktipps zur Vertiefung auf.
- In ihrer Handreichung Quick Start Guide for Flipping your Classroom with Peer Instruction beschreibt Julie Schell den Einsatz der Peer Instruction Methode in der Lehre.
- Die University of British Columbia bietet auf ihrer Webseite eine Linksammlung zum Thema, insbesondere zu Clicker-Fragen/-Antworten.