Selbststudium

An Hochschulen ist der Anteil des Selbststudiums im Vergleich zur (Online-)Präsenzzeit (und im Vergleich zum schulischen Lernen) typischerweise sehr hoch. Um die Studierenden dabei zu unterstützen, können sehr verschiedene Ansätze, Methoden und (digitale) Werkzeuge genutzt werden, die z. B. bei der aktiven Erschließung von Inhalten oder bei der Organisation und Zeitplanung helfen.

Selbststudium

Gerade für viele Studienanfängerinnen und -anfänger ist selbstreguliertes und selbstgesteuertes Lernen eine große Herausforderung; aber auch in fortgeschrittenen Semestern zeigt sich immer wieder, dass das Selbststudium häufig nicht „von selbst“ läuft. Die Fähigkeit zum eigenständigen Lernen und Arbeiten ist jedoch nicht nur im Studium von zentraler Bedeutung, sondern wird für viele Studierende auch im späteren Berufsleben eine wesentliche Rolle spielen.

Begriffliche Klärung

Zur Beschreibung unterschiedlicher Formen des Selbststudiums wird in der Fachliteratur unterschieden zwischen (1) „freiem“, (2) „individuellen“ und (3) „begleitetem“ Selbststudium (vgl. Landwehr & Müller, 2006):

  1. Das freie Selbststudium ist dadurch gekennzeichnet, dass Studierende sich aus freien Stücken mit bestimmten Themen und Inhalten auseinandersetzen, die völlig unabhängig von konkreten Modulen sein können und nicht im Curriculum vorgeschrieben sind. Das Engagement im freien Selbststudium ist also in erster Linie von den individuellen Interessen und dem persönlichen Einsatz der Studierenden abhängig. Dennoch können Hochschulen solche Aktivitäten unterstützen, indem sie z. B. Credit-Points dafür vergeben, etwa durch eine Verrechnung in der ECTS-Summe im Rahmen von Abschlussarbeiten, Service Learning oder Campus Credits.
  2. Das individuelle Selbststudium ist zwar einzelnen Modulen zugeordnet, jedoch nicht durch spezielle strukturierte Lernaktivitäten. Entsprechend gibt es keine strukturierende Auftragslenkung und keine Kontaktbegleitung durch Lehrende.
  3. Beim begleiteten Selbststudium arbeiten die Studierende selbstorganisiert – individuell und in Gruppen – um vorgegebene Aufträge zu erfüllen. Hier wird nochmals unterschieden zwischen „begleiteter Selbstlernzeit“ (mit Kontaktbegleitung durch Lehrende) und „unbegleiteter Selbstlernzeit“ (ohne Kontaktbegleitung).

Rahmenbedingungen

Seit der Bologna-Reform werden für die Selbststudien-Anteile jedes Moduls explizit Leistungspunkte (ECTS) vergeben. Diese Selbststudien-Anteile beinhalten nach einer Definition der HRK: Zeit für die Vor- und Nachbereitung von Lehrveranstaltungen, Lektüre, Hausarbeiten, Prüfungsvorbereitung, Zeit für die Abschlussarbeit etc. Als Planungsgröße bei der Studiengangentwicklung dient dabei der sog. Workload, der zugleich als Überlastschutz die „Studierbarkeit“ der einzelnen Module und des Studiengangs sichern und die Anerkennung von Studienleistungen beim Hochschulwechsel erleichtern soll (siehe auch Definition „Workload“ laut Glossar der HRK). Als „Selbststudium“ wird der Anteil am studentischen Workload bezeichnet, der für die eigenständige Erarbeitung und Aneignung von Studieninhalten aufgewandt wird.

Die für das Selbststudium angenommene Zeit findet damit Eingang in die Berechnung des Workload. Mit diesem expliziten Einbezug in die Zuordnung von Leistungspunkten zu Modulen bzw. Lehrveranstaltungen wird die Bedeutung des Selbststudiums aufgewertet; es bekommt eine höhere Relevanz als zuvor und rückt stärker in das Bewusstsein von Lehrenden und Studierenden. Daraus ergibt sich für Hochschulen bzw. Lehrende auch die – möglicherweise genuin hochschultypische – neue Aufgabe, das Selbststudium gezielt zu unterstützen.

Kernproblem

Untersuchungen haben gezeigt, dass viele Studierenden deutlich weniger Zeit mit dem Selbststudium verbringen, als veranschlagt − und als sie selbst annehmen (z. B. Metzger, 2013). Zugleich haben viele Studierende Schwierigkeiten mit verschiedenen Aspekten des Selbststudiums, etwa bei der Bewältigung inhaltlicher Aufgaben, aber auch dabei, regelmäßig und strukturiert zu arbeiten oder die eigene Leistung und den Lernfortschritt einzuschätzen.

Zudem zeigte sich nicht erst in den coronabedingten Online-Semestern (dort allerdings besonders deutlich), dass es für Lehrende teilweise schwer einzuschätzen ist, wieviel Zeit für die Auseinandersetzung mit bestimmten Studieninhalten oder Aufgabenstellungen einzukalkulieren ist. Auch das Wissen über die unterschiedlichen Voraussetzungen der Studierenden(gruppen) ist bei Lehrenden teilweise ein Schwachpunkt („weak link“, Jenert, 2015). Hinzu kommt, dass die Zeit für das Selbststudium individuell sehr stark variieren kann. Wieviel Zeit Studierende mit dem Selbststudium verbringen, kann selbst innerhalb ein und derselben Veranstaltung sehr unterschiedlich sein. Auch muss der Zeitaufwand für das Selbststudium nicht in unmittelbarer Korrelation zum Studienergebnis stehen.

Lösung

Um das Selbststudium zu unterstützen, kann insbesondere auf zwei Ebenen angesetzt werden: (1) auf der Ebene der Selbstregulation, also der inneren Regulierung und (2) auf der Ebene der Selbststeuerung, der externen Regulierung des Lernens:

  1. Als Selbstregulation wird die Fähigkeit bezeichnet, das eigene Verhalten im Kontext des Studiums also das eigene Lernen − zu steuern. Dabei geht es um innere Prozesse: Kognition, Metakognition und Motivation. Um den Erwerb oder Ausbau selbstregulativer Prozesse zu fördern, können Lehrende sich fragen, welche (digitalen) Unterstützungsmöglichkeiten Studierende im Rahmen einer konkreten Lehrveranstaltung dazu benötigen. So können beispielsweise kognitive Prozesse durch digitale Lernmaterialien gefördert werden, die sich adaptiv dem Kenntnisstand der Studierenden anpassen. Metakognitive Prozesse können durch Aufgabenstellungen gefördert werden, in denen es darum geht, den eigenen Lernprozess bewusst zu beobachten; als Werkzeuge dazu können beispielsweise E-Portfolios eingesetzt werden, in denen Studierende nicht nur eigene Arbeitsergebnisse sammeln, sondern sie auch reflektieren. Die Motivation von Studierenden lässt sich beispielsweise durch aktivierende Aufgabenstellungen anregen, aber auch durch (interaktive) Videos oder (Peer-) Feedback.
  2. Von Selbststeuerung spricht man in Bezug auf Entscheidungs-, Gestaltungs- und Handlungsspielräume der Lernenden bei der Planung und Umsetzung ihrer eigenen Lernprozesse. Im Kontext des formellen Lernens an Hochschulen sind diese Entscheidungsspielräume meist eher gering, da es hier externe Regulierungen gibt (z.B. Curricula und Prüfungsanforderung). Dennoch können Lehrende sich bei der Planung von Veranstaltungen fragen, welche Freiräume und Verbindlichkeiten die Szenarien und die Lernumgebung den Lernenden bieten sollen. Dabei geht es beispielsweise um zeitliche Freiräume oder enge Taktungen, um die Möglichkeit, Aufgaben vorzugeben oder von den Lernenden selbst definieren zu lassen, um die Wahl der Arbeitsform (individuell oder in Gruppen) usw.

Sowohl die Fähigkeit zur Selbstregulation als auch Kompetenzen zur Selbststeuerung lassen sich in fachlichen Modulen unterstützen aber auch durch fachübergreifende (Online-) Angebote, beispielsweise Einführungskurse ins Studium oder Selbststudium. Und in allen Formen des Selbststudiums − dem freien, individuellen oder begleiteten Selbststudium − können digitale Medien zum Einsatz kommen bzw. genutzt werden: So sind für viele Studierende digitale Lernmaterialien, die sie bei ihren Recherchen finden – etwa Videos und andere offene Bildungsressourcen – im freien und individuellen Selbststudium hilfreich. Für Lehrende bietet das begleitete Selbststudium i. d. R. die besten Anknüpfungspunkte, Studierende beim Selbststudium zu unterstützen. 

Da digitale Tools im Kontext des Selbststudiums zu sehr unterschiedlichen Zwecken und in sehr verschiedenen Szenarien zum Einsatz kommen können, ist eine Angabe von Werkzeugen an dieser Stelle nicht sinnvoll. Konkrete Toolhinweise werden aber beispielsweise in den Einsatz-Szenarien und Erfahrungsberichten gegeben, die unten im Bereich Beispiele aufgeführt werden.

Vorteile

Das begleitete Selbststudium kann je nach Studienfach und Lehrszenario – sei es eine Großveranstaltung für Studienanfängerinnen und -anfänger, ein Seminar oder die Betreuung von Abschlussarbeiten – sehr unterschiedlich aussehen. Einfache, für alle Lehrveranstaltungen gültige „Rezepte“ kann es dazu also nicht geben. Vielmehr haben Lehrende zahlreiche Möglichkeiten, wie in ihren Veranstaltungen selbstregulative und selbstgesteuerte Lernprozesse zu unterstützen können. Digitale Medien können in diesem Zusammenhang sowohl zur Aktivierung der oben erwähnten kognitiven, motivationalen und sozialen Prozesse eingesetzt werden, als auch im Bereich der Organisation des Studiums (Einhaltung von Fristen, regelmäßiges Arbeiten) und bei überfachlichen Themen (Unterstützung bei Fragen zum wissenschaftliche Arbeiten: Recherche, formale Hinweise etc.).

Vorteile digitaler Medien bei der Unterstützung des Selbststudiums liegen nicht nur in deren Vielfalt und Flexibilität, sondern auch darin, dass digitale Medien einige spezifische Eigenschaften haben, die zur Förderung lernrelevanter Prozesse besonders geeignet sind (und die analoge Medien nicht aufweisen):

  • Interaktivität: Das jeweilige technische System oder das digitale Lernmaterial kann zur Interaktion mit der digitalen Lernumgebung anregen. Dabei können z. B. interaktive Grafiken, Simulationen oder Spiele zum Einsatz kommen. Auch Wissenstests oder formative Selbstassessments können unmittelbar Rückmeldungen über den jeweiligen Leistungsstand geben.
  • Adaptivität: Adaptive digitale Lernumgebungen oder Lernprogramme können Interaktionsdaten sammeln und sich auf dieser Basis automatisch an den Wissensstand, die Vorkenntnisse oder die bisherige Interaktionen der Lernenden anpassen; oder es können Anpassungen durch die Lernenden vorgenommen werden.
  • Synchronizität: Synchrone Kommunikationsmedien ermöglichen trotz räumlicher Trennung gleichzeitige Lern- und Kommunikationsprozesse zwischen Menschen, innerhalb der Lerngruppe und/oder Lernenden und Lehrende, z. B. gleichzeitiges Arbeiten an einem Dokument in Kombination mit einer Audio- oder Videokonferenz.
  • Selbststeuerung: Bestimmte digitale Lernumgebungen unterstützen selbstgesteuertes Lernen, indem sie z. B. die Wahl von Lernpfade oder -inhalten ermöglichen.

Oft wirken digitale Lernmaterialien − etwa Videos oder Podcasts − auch motivierend auf Studierende und können von Lehrenden gezielt dazu genutzt werden, beispielsweise um zu Beginn eines Lernprozesses Interesse zu wecken. Studierende selbst solche Medien erstellen zu lassen, trägt sowohl zum Erwerb von inhaltlichem Wissen als auch zur Aktivierung bei. 

Des Weiteren können synchrone und asynchrone Kommunikationstools genutzt werden, um das Selbststudium bedarfsgerecht zu unterstützen (Online-Betreuung, Online-Beratung, Peer-Feedback, Mentorenprogramme etc.).

Nachteile

Digitale Lernmaterialien, insbesondere Videos, können dazu führen, dass Lernende Inhalte eher passiv rezipieren und sich nicht aktiv damit auseinandersetzen. Ursache dafür ist laut Salomon (1984), dass die vermeintliche Einfachheit des Mediums zu einer geringeren mentalen Anstrengung der Lernenden führt. Da Texte als schwieriger eingeschätzt werden, investieren Lernenden beim Lesen mehr mentale Anstrengung in das Lernen. Die Digitalisierung von Videos erlaubt jedoch verschiedene Maßnahmen, die zu einer aktiveren Auseinandersetzung mit den Inhalten von Videos führen können, z. B. interaktive Steuerungsmöglichkeiten (Merkt, 2015). 

Grundsätzlich gilt, dass beim Einsatz von digitalen Tools in der Lehre datenschutzrechtliche Anforderungen in Bezug auf alle personenbezogenen Daten berücksichtigt werden müssen. Dies betrifft insbesondere auch den Bereich von Learning Analytics bzw. Educational Data Mining, dessen Einsatz im Bereich des Selbststudiums vielversprechend erscheint, da auf der Grundlage der erhobenen und aggregierten Daten die Bedürfnisse einzelner Lernender besser erkannt, individuelle Lernprozesse besser unterstützt und adaptiv angepasste Lernvorschläge gemacht werden können. 

Ein prinzipieller Einwand gegen den Einsatz digitaler Medien im Kontext des Selbststudiums besteht darin, dass diese eher dazu beitragen könnten, die Selbstständigkeit und die Unabhängigkeit der Lernenden einzuschränken, etwa indem sie eine Fokussierung auf vordefinierte, messbare Lernergebnisse verstärken. So argumentierte etwa in einer Gegenüberstellung verschiedener Positionen zu Learning Analytics der Datenschutzbeauftrage der Ruhr-Universität Bochum, dass es durch den Einsatz von Learning Analytics eher erschwert als gefördert werde, Impulse zu setzen, die Lernenden neue (und vielleicht auch unangenehme) interessensferne Gebiete nahe bringen, da die Systeme zwar Verhaltensmuster erkennen, aber nicht Begabungen. Damit würde insbesondere Außergewöhnliches unter den Tisch fallen und interesseweckendes, motivierendes Neues sei dort für Lernende nicht zu entdecken.

Details

Zur Unterstützung des begleiteten Selbststudium sind neben geeigneten Arbeitsaufträgen folgende Aspekte hilfreich:

  • Eine klare Strukturierung: Ein übersichtlicher zeitlicher Ablauf sowie eine nachvollziehbare inhaltliche Struktur erleichtern den Lernenden die Gestaltung ihres Lernprozesses.
  • Inhaltliche Hilfestellungen: Durch Angebote wie Advance Organizer, Leitfragen, interaktive digitale Lernmaterialien usw. kann die aktive Auseinandersetzung mit den Inhalten gefördert werden.
  • Feedback in beide Richtungen: Die Rückmeldung auf Aufgabenlösungen motiviert und bestätigt Lernende. In großen Gruppen kann auch Peer-Feedback gegeben werden, oder studentische Aufgabenlösung, Fragestellungen und Rückmeldungen können in der Präsenzlehre aufgegriffen werden, die so mit den Selbstlernphasen verbunden wird. Doch Lehrende sollten auch Rückmeldungen der Studierenden einholen, um einschätzen zu können, wie ihre Maßnahmen bei den Lernenden ankommen und ob sie wirklich unterstützend sind. Eine solche Feedback-Kultur ist für viele Beteiligte im Hochschulkontext bisher noch eher ungewohnt.

Bei der Planung von geeigneten Aufgabenstellungen und Unterstützungsformen für das Selbststudium können Lehrende sich z. B. am Konzept des Constructive Alignement orientieren, das vorsieht, bei der Planung einer Veranstaltung nicht nur die Lernziele zu definieren, sondern dabei auch bereits festzulegen, welche Prüfungsformen eingesetzt werden sollen, um beurteilen zu können, ob die Lernziele auch erreicht wurden, und welche Lernaktivitäten dazu beitragen, die angestrebten Kompetenzen zu erwerben.

Beispiele

Im Themenspecial „Das Selbststudium mit digitalen Medien unterstützen“ werden in Erfahrungsberichten und Online-Events Beispiele für den gelingenden Einsatz digitaler Medien im Selbststudium vorgestellt, u. a. zu folgenden Themen:

Auch auf der Digital Learning Map werden zahlreiche Lehr-Lernszenarien vorgestellt, deren Ziel es ist, passive Studierende oder Studierende mit geringer Selbstregulationsfähigkeit und geringer Motivation zu unterstützen und zu aktivieren. 

Letzte Änderung: 04.06.2024