Forschendes Lernen
Forschendes Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass Studierende selbstständig forschen oder den Forschungsprozess aktiv mitgestalten. Im Idealfall sind die Studierenden also selbst Forschende im Rahmen eines Seminars oder Projekts.
Viele Hochschulen haben das forschende Lernen in ihre Leitbilder integriert. Mehr als 50 Jahre nach Erscheinen der BAK-Schrift Forschendes Lernen – Wissenschaftliches Prüfen (1970) ist forschendes Lernen heute ein „potenzielles Qualitätsmerkmal von Hochschulen“ (Kergel & Heidkamp, 2018, S. 488). Forschendes Lernen gehört somit zum Selbstverständnis der Hochschulen und zum Kern dessen, was akademische Bildung ausmacht. Es gibt viele, auch aktuelle, Gründe, warum forschendes Lernen im Studium erstrebenswert ist: etwa Vorbereitung auf Abschlussarbeiten, eine verwissenschaftlichte Arbeitswelt oder Stärkung von kritischem Denken gegen Populismus und Fake-News.
Was genau ist unter forschendem Lernen zu verstehen?
Die Bezeichnung „forschendes Lernen“ wird in der Lehrpraxis unterschiedlich gebraucht. Viele beziehen sich auf die Definition der BAK von 1970, die relativ deutlich das eigenständige Forschen der Studierende betont. Oftmals aber werden auch andere Formen der Integration von Forschung in die Lehre als „forschendes Lernen“ bezeichnet. Dann verschwimmen häufig die Grenzen zwischen problemorientiertem, fallorientiertem, projektorientiertem und forschendem Lernen. Mitunter wird das studentische Forschen auch wieder anders bezeichnet, etwa als forschungsorientiertes Lernen (Lehmann & Mieg, 2017; Huber, 2014; Reinmann, 2016). Zunehmend durchgesetzt hat sich inzwischen allerdings die präzisere Begriffsverwendung und folgende Definition forschenden Lernens von Ludwig Huber:
„Forschendes Lernen zeichnet sich vor anderen Lernformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – […] (mit)gestalten, erfahren und reflektieren.“ (Huber, 2009, S. 11, eigene Hervorhebungen).
Ein idealtypischer Forschungsprozess wird von Huber (2009) anhand der folgenden Phasen skizziert. Weitere Informationen zu den einzelnen Forschungsphasen erhalten Lehrende und Studierende z. B. auf der Insel der Forschung.
Entscheidend ist hier die „kognitive, emotionale und soziale Erfahrung des ganzen Bogens“ der Forschung, der ausgehend vom initialen Interesse am Gegenstand durch Höhen und Tiefen führen und neben theoretischen bzw. methodischen Erkenntnissen insbesondere auch Ungewissheiten und Erfolgserlebnisse mit sich bringen kann (Huber, 2009, S. 12).
Die Selbstständigkeit der Studierenden im forschenden Lernen spielt eine große Rolle. Möglich sind allerdings auch verschiedene Formen der Unterstützung (Scaffolding) und damit eine Variation in der studentischen Autonomie beim Forschen. Lehrende haben beim forschenden Lernen entsprechend eine vor allem begleitende und beratende Funktion. Bei Bedarf geben sie neben Anregungen aber auch Anleitungen und Hilfestellungen.
Forschendes Lernen: Gründe und Ziele
Mit forschendem Lernen werden verschiedene Ziele verfolgt. Diese Ziele haben recht unterschiedlichen Charakter und lassen sich teils aus dem schon genannten Selbstverständnis der Hochschule heraus begründen, teils bildungstheoretisch legitimieren und teils mit Erkenntnissen aus der Lehr-Lernforschung stützen (Huber & Reinmann, 2019, S. 29 ff.):
- Mit forschendem Lernen lässt sich Forschungskompetenz fördern. Dazu gehören eine grundlegend forschende Haltung, fachspezifische Forschungsfähigkeiten, metakognitives Wissen und Können wie z. B. kritisches Denken und Abstraktionsfähigkeit. Zudem können Studierende auf diesem Wege eine fachliche Identität aufbauen.
- Forschendes Lernen kann Studierende besonders motivieren und ein tiefes Lernen anstoßen. Indem Studierende in authentische Forschungssituationen eintauchen, entwickeln sie potenziell wissenschaftliche Interessen; indem sie einen Forschungsprozess selbst strukturieren und reflektieren, verstehen sie die Prinzipien einer Disziplin.
- Forschendes Lernen fördert als ein soziales Lernen in Projektgruppen immer auch Kommunikations-, Organisations- und Teamfähigkeit sowie weitere berufsqualifizierende überfachliche Kompetenzen.
Forschendes Lernen führt Studierende in äußerst komplexe Situationen und erfordert Entscheidungen, um ein Forschungsprojekt vollständig durchzuführen. Diese Form von Handlungskompetenz können Studierende beim Forschen einüben und in Anwendungssituationen außerhalb der Hochschule nutzen. Eine Besonderheit stellt das forschende Lernen in der Studieneingangsphase dar: Hier, zu Beginn eines Studiums, können Studierende anhand von forschendem Lernen Differenzen zwischen schulischem und universitärem Lernen, Denken und Handeln erfahren; sie werden potenziell auch emotional tangiert, etwa indem sie Widerstände ebenso wie Selbstwirksamkeit in Forschungsprozessen erleben (Reinmann, Lübcke & Heudorfer, 2019, S. 13 ff.). Gerade in der Studieneingangsphase ist die Chance groß, früh eine wissenschaftliche Haltung gegenüber gesellschaftlichen Problemen auszubilden.
Insbesondere im Hinblick auf KI-gestütztes Lernen und damit verbundene Herausforderungen für die Lehre (z. B. Halluzinieren von Quellen, eher oberflächliche Darstellung von Sachverhalten durch KI) stellt forschendes Lernen eine Möglichkeit dar, diesen entgegenzuwirken. Denn beim forschenden Lernen müssen sich die Studierenden mit den verschiedenen Forschungsphasen auseinandersetzen, diese miteinander verknüpfen und verinnerlichen, um den Forschungsprozess erfolgreich zu durchlaufen. Forschendes Lernen erfordert daher eine wesentlich tiefere und breitere Auseinandersetzung als beispielsweise das Schreiben einer Hausarbeit, das Ablegen einer Klausur oder das Halten einer Präsentation zu einem bestimmten Themenkomplex. Aufgrund dieser Komplexität und der Notwendigkeit, die einzelnen Forschungsschritte wirklich zu verstehen, ist es für die Studierenden wenig hilfreich, Sachverhalte oder Methoden nur oberflächlich durch eine KI darstellen zu lassen oder sich auf halluzinierte Quellen zu beziehen.
Zudem führt die Begleitung des forschenden Lernens durch die Lehrenden dazu, dass z. B. oberflächliche Behandlung von Methoden oder Theorien oder unpassende Quellenangaben bereits im Forschungsprozess auffallen. Lehrende, die eine vermehrte und unangemessene Nutzung von KI-Anwendungen bei ihren Studierenden vermuten, haben so frühzeitig die Möglichkeit, die Studierenden darauf anzusprechen und mit ihnen über den Einsatz von KI beim forschenden Lernen zu diskutieren bzw. Regeln dafür aufzustellen.
Gleichzeitig bieten neue KI-Tools in den Bereichen Literaturrecherche und -auswertung, Informationsbeschaffung, Korrektur und Präsentation vielfältige Möglichkeiten, Studierende beim forschenden Lernen zu unterstützen, Lehrende zu entlasten und gleichzeitig eine kritisch-reflexive Nutzung insbesondere von KI-gestützten Werkzeugen einzuüben (Vertiefende Informationen unter Einsatz digitaler Technologien). Forschendes Lernen nimmt damit eine wichtige Rolle auch für zukünftige Entwicklungen in der Hochschullehre ein, da es sowohl mit neuen KI-Tools verknüpft werden kann als auch durch seine Komplexität Missbrauchspotentialen neuer Technologien entgegenwirkt.
Forschendes Lernen stellt eine höchst wertvolle Gelegenheit für Studierende dar, eine ganze Reihe von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen ausgehend von inhaltlich relevanten Problemstellungen zu entwickeln. Aber: „Selbstverständlich sichert die bloße Form ‚Forschendes Lernen’ so wenig wie irgendeine andere Lehrform schon als solche, dass diese Wirkungen eintreten; das hängt von der Ausgestaltung ab.“ (Huber, 2009, S. 16).