Ethik und Digitalisierung
In einer zunehmend durch Digitalisierung geprägten Gesellschaft und Hochschulkultur ändern sich nicht nur wissenschaftliche und mediendidaktische Prozesse und Kompetenzen. Es stellen sich auch neue Fragen danach, welche Aspekte einbezogen werden müssen, um in einem Kontext der Digitalität verantwortungsvoll handeln zu können. Der folgende Beitrag zu Ethik und Digitalisierung in der Hochschullehre reflektiert gesellschaftliche und individuelle Auswirkungen digitaler Prozesse und thematisiert dabei insbesondere konkrete Problemfelder im Kontext der Hochschullehre.
Die sogenannte „digitale Transformation“ hat in der Hochschulbildung bereits den Status einer Selbstverständlichkeit erlangt. Das „Digitale“ ist alltäglich geworden, wie einst Stift und Papier. Lehr-/Lernprozesse vollziehen sich in einer von Digitalität geprägten Hochschulkultur, in welcher analoge sowie digitale Kommunikationen und Prozesse verwoben und zum Teil in komplexer Weise in Abhängigkeit stehen (Hauck-Thum & Noller, 2021; Kerres, 2018). Innovationen digitaler Art dringen immer wieder mit großer Geschwindigkeit in unterschiedlichste Sphären unseres Lebens ein. Nicht immer sofort als „neu“ erkennbar, fordern sie auf und hinterfragen Bestehendes – und nicht immer vermag das Individuum oder die Gesellschaft und ihre Institutionen mit der entstehenden Dynamik schrittzuhalten, wie das Beispiel sich verändernder Entstehungsbedingungen von Wissen durch Künstliche Intelligenz vor Augen führt.
Unsere Fähigkeiten der kritischen Distanznahme, Beurteilung und Folgeabschätzung hinsichtlich gesellschaftlicher, individueller oder professioneller Felder wird heute aber wohl auch künftig durch Prozesse der Digitalisierung stark gefordert. Der Ruf nach stärkeren digitalen Kompetenzen ist nicht zu überhören, doch: Reichen praktische Fertigkeiten und Kompetenzen in der Bedienung oder in der mediendidaktischen Integration stets neuer digitaler Geräte und Softwareanwendungen aus, um Fragen nach einem „richtigen und verantwortungsvollen“ Handeln in einer Hochschulkultur der Digitalität zu begegnen? Denn dazu ist eine „Weitung“ der Perspektive erforderlich, welche gesellschaftliche und individuelle Auswirkungen digitaler Prozesse im Blick behält. Doch welche konkreten Problemfelder drängen sich diesbezüglich insbesondere in der Hochschullehre auf und welche Fragen bleiben in der Umsetzung der Forderung nach einem „Mehr“ an kritisch-reflexiver und ethischer Bezugnahme auf die Digitalisierung studentischer und professioneller Lebenswelten vorerst unbeantwortet?
Hochschulen als Akteure in einer Kultur der Digitalität
Der Begriff der „Digitalität“ verweist auf gesellschaftliche und soziale Transformationsprozesse im Zuge der Technisierung und Digitalisierung weitreichender Lebensbereiche der Menschen und nimmt die sich verändernden Handlungs- und Denkpraxen in den Blick, welche die Digitalisierung erwirkt hat und welche wiederum weitere Schritte in der Digitalisierung ermöglichen (Hauck-Thum & Noller, 2021). Die Hochschulen (Fachhochschulen, Universitäten und gleichgestellte Hochschulen) sind als Akteure in einer „Kultur der Digitalität“ (Stalder, 2016) eingebettet. Stalder beschreibt mit diesem Konzept in umfassender Weise die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen im Zuge der Digitalisierung und die damit einhergehende, potenzielle Multiplikation kultureller Ausdrucksformen: „Immer mehr Menschen beteiligen sich an kulturellen Prozessen, immer weitere Dimensionen der Existenz werden zu Feldern kultureller Auseinandersetzungen, und soziales Handeln wird in zunehmend komplexere Technologien eingebettet, ohne die diese Prozesse kaum zu denken und schon gar nicht zu bewerkstelligen wären“ (Stalder, 2016, S. 11).
Die Organisation Hochschule ist von diesen Prozessen gleichermaßen erfasst: Gesellschaftliche Veränderungen wirken sich auf die äußere und innere Wahrnehmung und die Funktionen der Organisation aus (bspw. Themen wie Diversity oder Nachhaltigkeit). Der Hochschule kommt unter anderem die Aufgabe zu, diese „Bewegungen“ zu erfassen, sie zu reflektieren und in einer aktiven Weise verantwortungsbewusst mitzugestalten. Dies gelingt beispielsweise über eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ethischen Problemfeldern, welche digitale Prozesse hervorrufen. Ziel ist es, diese Problemfelder zu erkennen, zu benennen sowie dafür zu sensibilisieren. Neben Orientierungshilfen kann so auch Ungleichheiten entgegengewirkt werden sowie Verantwortungsbereiche aufgezeigt und die individuelle Entscheidungsfindung unterstützt werden.
Begriffsverständnis: Digitale Ethik
Das Nachdenken über Digitalisierung und deren Einflüsse auf Handlungen, Einstellungen und Normen von Menschen und Organisationen ist unter anderem Aufgabe der Ethik, respektive deren sich teilweise überschneidenden Bereichsethiken, wie bspw. der Technikethik (Grunwald, 2013), der Informations- und Medienethik (Heesen, 2016; Bendel, 2016) oder der Digitalen Ethik, wobei letztere einen besonders breiten, bereichsübergreifenden Anspruch verfolgt: „Eine Digitale Ethik soll nicht nur Auswege aus moralischen Dilemmata aufzeigen, vor denen Programmierer oder Internetnutzer stehen können, sondern auch vernünftige Lösungen für Situationen anbieten, in denen Fahrzeuge autonom funktionieren oder Maschinen miteinander kommunizieren“ (Wewer, 2020, S. 231). Weiter fragt die Digitale Ethik „(…) nach dem guten und richtigen Leben und Zusammenleben in einer Welt, die von digitalen Technologien geprägt ist. Sie formuliert Regeln für das richtige Handeln in Konfliktsituationen, die von der Digitalisierung aufgeworfen werden (…)“ (Bundesverband Digitale Wirtschaft, o. J.).
Diesem Anspruch im Bereich der Hochschulbildung nachzukommen, heißt beispielsweise, das Auftauchen und den Einsatz neuer Technologien im Kontext digitaler Lehr-/Lernprozesse einzuordnen und beurteilen zu können. Ethische Auseinandersetzungen mit der Digitalisierung sind dabei auch an der Hochschule kein fach- oder bereichspezifisches Problem, sondern als Grundvoraussetzung von Mündigkeit und kritisch-reflexiver Bezugnahme zu Phänomenen des Lebens innerhalb und außerhalb der eigenen Disziplin oder des Studiums zu betrachten.
Ethische Fragestellungen in Lehre und Studium
Studierende und Hochschulangehörige sind in mindestens zweifacher Weise direkt mit Wirkungen von Digitalisierungsprozessen und den damit einhergehenden gesellschaftlichen und ethischen Fragestellungen konfrontiert: Es ist davon auszugehen, dass sich Studierende in ihren künftigen professionellen wie privaten Tätigkeitsfeldern verstärkt in Prozessen der Digitalisierung und der Digitalität wiederfinden werden. Gleichzeitig sind sie bereits schon während ihres Studiums oder der Tätigkeit an einer Hochschule mit diesen konfrontiert, indem sie digitale Anwendungen nutzen oder digitale Lernformate, wie bspw. Hybrid Learning oder Blended Learning, in Anspruch nehmen. Der Bedarf, sich über Digitalisierungsprozesse im eigenen Studium auszutauschen, (Selbst-)Lernprozesse auch im digitalen Raum zu gestalten oder das eigene wie andere Verhalten im digitalen Raum und in der Digitalität zu reflektieren und zu verhandeln ist damit gegeben.
Für Dozierende ergibt sich eine ähnliche Ausgangslage. So kommt ihnen unter anderem der Auftrag zu, Studierende auf künftige Tätigkeitsfelder in einer von Digitalität geprägten (Arbeits)Welt vorzubereiten und zu sensibilisieren. In der eigenen Lehrpraxis jedweden Fachbereichs, Disziplin oder Studiengangs werden dabei auch unabhängig dieses Ziels digitale Medien und Lehr-/Lernformate eingesetzt, z. B bei der Nutzung einzelner Tools, von Learning-Management-Systemen, beim Einsatz von Feedback-Tools bei dem Studierende mit eigenen Geräten QR-Codes scannen etc. Von Dozierenden und Hochschullehrpersonen wird somit eine hohe Ausgangskompetenz in Bezug auf die Anwendung wie auch die Bewertung digitaler Prozesse und Technologien erwartet, welche eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlich relevanten, ethischen Fragestellungen miteinschließt.
Dimensionen ethischer Problemstellungen
Im Folgenden werden einige Dimensionen ethischer Problemstellungen und deren konkrete Artikulierungen dargestellt, ohne dabei den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben. Sie umfassen Fragen zur gesellschaftlichen Ebene digitaler Anwendungen sowie Prozesse und Fragen der individuellen Verantwortung im Umgang und der Bewertung derselben.
Folgen der Digitalisierung für Mensch und Umwelt: Die Verwendung digitaler Technologien und die Digitalisierung von Prozessen hat Folgewirkungen auf Mensch und Umwelt, welche nicht direkt in der Anwendung ersichtlich sind. Dies umfasst beispielsweise den Energiebedarf für Serverfarmen, die Beschaffung von notwendigen Rohstoffen aber auch von Datengrundlagen, wie diese auch für die Entwicklung generativer KI-Systeme nötig ist. Damit verbunden sind Fragen nach menschenwürdigen Arbeitsbedingungen, Machtverhältnissen im internationalen Handel oder der Umbau ganzer Arbeitsfelder aber auch Fragen nach Umweltschäden durch den Abbau seltener Erden oder dem in Massen produzierten Elektroschrott (u. a. Fuchs, 2021; 2022). Hierzu können auch Themenfelder der Maschinenethik (Bendel, 2020) herangezogen werden, wie beispielsweise die Frage nach den Aufgaben und Prozessen, die an Maschinen delegiert werden können, sollen oder auf keinen Fall werden dürfen (Offloading von Wissen und Prozessen).
Zugang und Kontrolle: Auch Herausforderungen bezüglich eines gleichberechtigten fairen Zugangs zu Technologien sind hier fundamental. Damit einher gehen medien- und informationsethische Herausforderungen bezüglich der Möglichkeiten der Bewertung, Nutzung und Kontrolle von Informationen (Heesen, 2016). Dazu gehört immer mehr auch die Auseinandersetzungen mit Datenmonopolen und deren Folgen für staatliche und private Institutionen, welche nicht zuletzt auch im Bildungsbereich spürbar sind: Wer kann gesammelte Daten zu welchen Zwecken nutzen und wem ist dieser Zugang verwehrt, respektive welche gesellschaftlich bedeutungsvollen Prozesse werden durch Datenmonopole erschwert?
Reflexion individuellen Handelns: Auf individueller Ebene rückt die Reflexion des eigenen Handelns in einer (Hochschul-)Kultur der Digitalität in den Fokus. Für Studierende bedeutet dies auch eine Konfrontation mit ihrer künftigen gesellschaftlichen Rolle und Verantwortung: Nicht nur gehören Studierende potentiell zu den Profiteurinnen und Profiteuren technologischer Entwicklungen im Bereich der Digitalisierung (u. a. Schereneffekte, Matthäus-Effekt, hohes soziales, ökonomisches, kulturelles, symbolisches Kapital (Bourdieu, 1987)), sie gestalten diese Entwicklungen in der Rolle als zukünftige Fachkräfte sowie Bürgerinnen und Bürger aktiv mit. Ist sich das Individuum der Tragweite seines Handelns bewusst, kann es verantwortungsbewusste Entscheidungen fällen. Dazu gehört auch eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem eigenen Nutzungsverhalten oder der individuelle Umgang mit Daten (Datensicherheit, Datenschutz, Persönlichkeitsschutz), Technologien oder Informationen, letztlich mit dem eigenen Selbst- und Weltverhältnis und dessen Genese in einer von Digitalität maßgeblich geprägten Welt. „Gefordert ist ein ethisch verantwortlicher Umgang mit den digitalen Technologien. (…) Ethische und unethische Verhaltensweisen in der digitalen Gesellschaft gehören hier zu den Themen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Dies gilt sowohl auf der individuellen Ebene wie für die Wirtschaft und die staatlichen Institutionen” (Moser, 2016, S. 220).
Transparenz: An dieser Stelle sind auch Themen wie Transparenz oder das Design digitaler Technologien von Bedeutung (Heesen, 2016). Nur wenn Nutzende über ausreichend Informationen zur Tragweite ihres Handelns im „Digitalen Raum“ verfügen, ist ein verantwortungsvolles Verhalten möglich. Neben Nutzungsbedingungen und ABGs könnte somit auch die gesellschaftliche oder politische Reichweite der Verwendung digitaler Produkte in den Fokus gerückt werden und so Teil von Entscheidungsprozessen auf individueller Ebene werden.
Wie wollen wir leben? Beim Individuum angelangt, rücken auch Fragen nach dem guten Leben in einer Kultur der Digitalität in den Kern der Aufmerksamkeit: Welches Leben wünsche ich für mich und für meine Mitmenschen? Was ist mein Selbstbild und wie wird dieses durch Digitalisierung geprägt? Ebenso die Grenzen und Möglichkeiten der Selbstoptimierung durch bspw. neue Programme, Wearables oder Implantate (Transhumanismus) können hier angesprochen werden – wird zum Beispiel aus einem “quantified self" ein “quantified collective”? (Maschewski & Nosthoff, 2022).
Ethische Fragen auf institutioneller Ebene der Hochschulen
Mit diesen Einblicken in mögliche, in der Lehre zu problematisierende Themenfelder aus dem Bereich der Ethik soll abschließend auch kurz auf noch zu bearbeitende Fragen, welche sich auf institutionelle Ebene einer Hochschule stellen, eingegangen werden.
Grundsätzlich stellt sich hier die Frage, was Hochschullehrende und Studierende an Vorwissen mitbringen, um sich mit ethischen Fragen auseinanderzusetzen. Haben sie Kenntnisse bspw. in philosophischen Grundlagen oder ethischem Argumentieren (Raters, 2020)? Bringen sie grundsätzlich die Bereitschaft mit, sich Fragen außerhalb des unmittelbaren Studieninhaltes zu stellen? Dies ist auch eine offene didaktische Herausforderung: Wie kann Studierenden die Relevanz ethischer Fragestellungen aufgezeigt werden? Wie ist mit zu erwartenden Widerständen umzugehen? Welche Formen der direkten Konfrontation ist zielführend? Welche Themen der (Digitalen) Ethik sollten für ein grundlegendes Verständnis in den Fokus gerückt werden (inhaltliche Schwerpunktsetzungen)?
Damit verbunden sind hochschulpolitisch relevante Fragen nach sinnvollen Angebotsformaten und -strukturen wie z. B. interdisziplinäre, außercurriculare oder in bestehende Module zu integrierende Angebote. Darüber hinaus: Wie kann die Hochschule das Interesse und die Akzeptanz in einzelnen Disziplinen, Instituten, Fachbereichen wecken und welche Anreize sind denkbar? Damit einher geht die Frage nach geeigneten Hochschulorganisationseinheit(en), welche die Entwicklung und Durchführung von einschlägigen Angeboten übernehmen könnten.
Fazit
Abschließend ist zu konstatieren, dass Themen der Digitalen Ethik vermehrt Einzug in Beratungen und in Aus- und Weiterbildungen sowie Lehre nehmen. Auch gibt es einige Hochschulen, welche bereits in unterschiedlichen Fachbereichen Aktivitäten anbieten und ferner einzelne Studiengänge, welche sich dem Themenfeld angenommen haben.
Die strukturelle Integration ethischer Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Digitalisierung der Hochschulbildung in bestehende oder neu geschaffene Angebote legt die Voraussetzungen für eine erfolgreiche, konkrete (medien)didaktische Umsetzung in den einzelnen Lehrveranstaltungen. Ethischen Fragen zur Digitalisierung wird dadurch in der Hochschulbildung mehr Gewicht zugestanden und deren Präsenz in den Bildungsbiografien von Studierenden beruht nicht mehr allein auf Einzelinitiativen engagierter Dozierender.
Studierende und Lehrende müssen sich aktuellen, wie künftigen ethischen Herausforderungen der Digitalisierung stellen, entsprechende Diskurse kritisch und aktiv begleiten sowie befähigt werden, ihre aktuelle und künftige gesellschaftliche Rolle verantwortungsbewusst und selbstbestimmt auszugestalten.