360°-Lernumgebungen
Ein Labor, eine (Kunst-)Ausstellung oder ein (entlegener) Exkursionsort – 360°-Umgebungen ermöglichen einen zeit- und ortsunabhängigen Zugang, exploratives Lernen und einen hohen Interaktivitätsgrad in ganz unterschiedlichen Wissensräumen.
Bei 360°-Umgebungen handelt es sich um Foto- oder Videoaufnahmen, die einen Rund- oder Panoramablick ermöglichen. Beim Ansehen des Videos kann die Perspektive jederzeit individuell über Steuerungselemente, wie bspw. Pfeiltasten, geändert werden. Die betrachtende Person entscheidet während das Video abspielt, welchen Ausschnitt der Umgebung sie aus der Kameraperspektive ansieht und kann so ihren Blick in alle Richtungen schweifen lassen. Bei der Verwendung von Fotoaufnahmen können sich die Nutzenden von Panorama zu Panorama bewegen, indem sie auf Punkte auf dem Boden klicken. Zahlreiche Studien zeigen positive Effekte von 360°-Anwendungen auf die Motivation und das Interesse von Lernenden.
Erstellung von 360°-Umgebungen
360°-Anwendungen basieren auf panoramatischen, fotorealistischen computergenerierten Umgebungen. Die technischen Anforderungen sind, was die Nutzung der Hard- und Software zur Erstellung virtueller 360°-Umgebungen angeht, in Relation zur Entwicklung von Virtual-Reality-Umgebungen vergleichsweise niedrig.
Zur Erstellung von 360°-Bildern oder -Videos werden meist spezielle 360°-Kameras verwendet, welche die Umgebung gleichzeitig aus verschiedenen Blickwinkeln aufnehmen, die dann zu einem Panorama zusammengesetzt werden (dieser Prozess wird auch als „Stitching“ bezeichnet). Alternativ kann auch eine Smartphonekamera oder eine Fotokamera in Kombination mit einem Panoramakopf verwendet werden, welcher die Kamera automatisch dreht, um mehrere Aufnahmen aus verschiedenen Perspektiven zu machen. Mit Hilfe geeigneter Software können dann in die fotorealistische 360°-Umgebung sogenannte Hotspots eingebunden werden. So lässt sich die 360°-Lernumgebung mit zusätzlichen Informationen anreichern, z. B. in Form von unterschiedlichen Medien, wie PDF-Dokumenten, Sound oder Videos. Dafür können kostenpflichtige Anwendungen wie 3D-Vista oder Pano2VR verwendet werden oder auch Open-Source-Alternativen wie beispielsweise 19squared (Ehlenz & Frederic, 2024).
Lernumgebungen in 360° können nicht nur als Desktopanwendungen genutzt werden, sondern über ein Head-Mounted-Display auch in Virtual Reality (VR) übertragen werden. Allerdings sind die Interaktionsmöglichkeiten hierbei deutlich beschränkter als in einer vollständig modellierten und programmierten VR-Umgebung. Die Vorteile von 360°-Umgebungen liegen demgegenüber im relativ geringen Produktionsaufwand und den geringen Kosten bei der Erstellung. Bei der Planung der Aufnahmen sollte darauf geachtet werden, sensible Bereiche oder private Grundstücke auszusparen, es sei denn, es liegt eine ausdrückliche Erlaubnis vor. Sollen 360°-Touren veröffentlicht werden, müssen darüber hinaus Einwilligungserklärungen von Personen eingeholt werden, die in den Panoramen zu sehen sind. Technisch gesehen bieten viele 360°-Kameras und Softwarelösungen Funktionen zur Unkenntlichmachung von Gesichtern, wie das automatische Verwischen, um die Identität der abgebildeten Personen zu schützen und z. B. bei Passanten im Bild bei Außenaufnahmen den rechtlichen Anforderungen des Datenschutzes gerecht zu werden.
Einsatzmöglichkeiten in der Lehre
Konstruktivistische Ansätze fassen Lernen als kreativen und individuellen Konstruktionsprozess auf. Einen hohen Stellenwert nimmt dabei das selbstgesteuerte Lernen ein: Die Lernenden erarbeiten weitgehend selbstständig Problem-, Lösungs- und Wissensstrukturen, d.h. sie bestimmen ihren Lernweg in weiten Teilen selbst. 360°-Umgebungen können dies unterstützen, indem sie es den Nutzenden ermöglichen, selbstgesteuert durch 360°-Wissensräume zu navigieren. Zahlreiche Studien zeigen positive Effekte von 360°-Anwendungen auf die Motivation und das Interesse von Lernenden (für einen Überblick siehe Funk & Schmidt, 2023, S. 292 f.). Darüber hinaus können Lernende selbst 360°-Umgebungen gestalten und virtuelle Touren und Exkursionen zusammenstellen, z. B. zu historisch relevanten Orten oder geographischen Themen (Tillmann & Kersting, 2021). Dazu können neben eigenen Aufnahmen auch Bilder aus Google Street View genutzt werden. Der authentische Kontext der realen 360°-Aufnahmen kann so durch die Immersion des Mediums zu höherer emotionaler Involviertheit, Motivation und Interesse führen (Shin, 2018; Slater et al., 2009).
Anwendungsfälle und Beispiele
In Lehr-/Lernkontexten eignen sich 360°-Umgebungen zum Beispiel für Orientierungsszenarien, etwa zur Vor- oder Nachbereitung von Exkursionen, oder auch für virtuelle Lehrausflüge oder Rundgänge. Ein 360°-Rundgang, der eine erste Orientierung geben möchte, ist zum Beispiel der virtuelle Rundgang der Universitätsbibliothek Marburg oder auch der Schulgarten360° der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ein Beispiel für einen 360°-Video-Rundgang gibt es an der Berliner Charité.
360°-Umgebungen bieten außerdem die Möglichkeit, schwer oder nicht mehr zugängliche Orte digital zu erkunden – explorativ oder anhand eines festgelegten Lernpfades. Das können historische, gefährliche oder weitentfernte Orte sein. Beispielsweise kann man eine 360°-Zeitreise ins Weimar des 19. Jahrhunderts unternehmen, die Antarktis oder die Tiefsee erkunden.
Ein weiterer interessanter Use Case ist die TK-Rescue-App, die auf den Ernstfall vorbereiten will, dass ein Mensch plötzlich mit Herz-Kreislauf-Problemen zusammenbricht. Dabei wird vor allem auch die Stresssituation mit umstehenden Beteiligten erlebbar gemacht. Ebenso lassen sich bestimmte Prozesse oder Prozeduren, z. B. in den Naturwissenschaften, mit Hilfe von 360°-Videos darstellen, was das beobachtende Lernen fördert, etwa in einem Physiklabor. Ein weiteres interessantes Beispiel zur Laborerkundung ist der 360°-EscapeRoom der TU Darmstadt. Das Serious Game richtet sich an Schülerinnen und Schüler und bereitet sie auf den realen Laborbesuch vor.
360°-Videos werden zudem im Lehrkräftetraining eingesetzt, mit dem Ziel, die Atmosphäre im Klassenzimmer immersiv erlebbar zu machen und außerdem bestimmte Situationen mit der Möglichkeit des Rundumblicks besser nachvollziehen und reflektieren zu können.
Auch im Ausstellungs- und Museumskontext hat die 360°-Technologie großes Potenzial, u.a. zur Erreichung jüngerer Zielgruppen. Wechselausstellungen können dadurch verstetigt, um weitere Digitalisate ergänzt und zeit- sowie ortsunabhängig zugänglich gemacht werden. Ein Beispiel ist die Ausstellung StolperSeiten360° der Universitätsbibliothek Frankfurt, die im Rahmen eines Provenienzforschungsprojekts entstanden ist. 360°-Rundgänge können zudem mit einer physischen Ausstellung zu einem hybriden Ausstellungsrundgang kombiniert werden.
Außerdem können Immersionseffekte von realitätsnahen 360°-Umgebungen genutzt werden, um beispielsweise Lernende für bestimmte Sachverhalte zu sensibilisieren oder Perspektivwechsel zu unterstützen. Zum Beispiel mit einem 360°-Video, das näherbringt, wie sich Menschen fühlen, die an Demenz erkrankt sind oder ein 360°-Video, das auf die Verschmutzung der Weltmeere aufmerksam machen will.
Vorteile
Vorteile, die alle vorgestellten Anwendungsfälle gemeinsam haben, sind zum einen der 360°- Rundumblick sowie der räumliche Eindruck, also sozusagen die „Begehbarkeit“ der digitalen Umgebungen. Im Sinne konstruktivistischer Auffassungen ist die selbstgesteuerte, explorative Wissenserschließung in authentischen Kontexten hervorzuheben: Je nachdem, wie sich die Nutzenden durch die 360°-Umgebungen bewegen bzw. ihren Blick schweifen lassen, erleben sie ihre ganz individuelle Tour. Weitere Vorteile sind der zeit- und ortsunabhängige Zugang, die Interaktionsmöglichkeiten mit multimedialen Inhalten und Objekten sowie die zeitliche Unbegrenztheit des virtuellen Aufenthalts.