Positionen zu Learning Analytics
Unter „Learning Analytics” versteht man die Erhebung und Auswertung von automatisch generierten Daten über Studierende und ihren Lernkontext, z.B. Daten, die in einem Lernmanagement-System erhoben werden. Befürworter sehen darin Chancen für eine Verbesserung von Bildungsangeboten, Kritiker befürchten, dass es zu einer Kultur der Überwachung kommt und wissenschaftlich unbegründete Rückschlüsse über Lehr- und Lernprozesse gezogen werden.
Prof. Dr. Ulrik Schroeder & Dr. Mohamed Amine Chatti (RWTH Aachen):
„In einer persönlichen Lehr/-Lernsituation, z.B. dem Klassenraum in der Schule, wird eine gute Lehrkraft das Lernverhalten der Lernenden beobachten und auch aktiv testen. […] In E-Learning-Situationen wie in MOOCs oder beim Blended Learning in Massenlehrveranstaltungen an Hochschulen ist dies nicht gegeben. Hier können Methoden des Learning Analytics helfen. Daten können beim Lernen mit Lerntechnologien erhoben, aufbereitet und aggregiert werden, um damit das Lernverhalten Lernender und deren Lernerfolg zu analysieren.” Weiterlesen
Dr. Kai-Uwe Loser (Ruhr-Universität Bochum):
„Big Data, hier unter dem Mantel von "Learning Analytics", hält vielfältige Heilsversprechen bereit. Doch wie bei vielen anderen technologischen Entwicklungen sind auch in diesem Fall einige ungewollte Folgen zu erwarten. Dieser Kommentar zielt bewusst in diese Richtung. Eine gesellschaftlich erforderliche Abwägung positiver wie negativer Folgen soll hier nicht erfolgen, vielmehr sollen den Protagonisten der Technologie drei pointierte Gegenargumente entgegengehalten werden, um einen weithin bewussten Umgang zu ermöglichen.” Weiterlesen
Pro: Unterstützung für Lehren und Lernen
von Prof. Dr. Ulrik Schroeder & Dr. Mohamed Amine Chatti
Mit Methoden und Werkzeugen des "Learning Analytics" wird versucht, die Vorteile einer unmittelbar persönlich betreuten Lehre auf Situationen des E-Learning oder Blended Learning zu übertragen.
In einer persönlichen Lehr/-Lernsituation, z.B. dem Klassenraum in der Schule, wird eine gute Lehrkraft das Lernverhalten der Lernenden beobachten und auch aktiv testen. Dies hilft (a) um Rückschlüsse auf die eigenen Unterrichtsangebote zu ziehen, (b) Erfahrungen über den Lernprozess Lernender zu sammeln und (c) diese Erfahrungen beratend an die Lernenden weiter zu geben, um deren Lernprozess zu optimieren (Beratung, Empfehlungen, Feedback). Zudem können Lernende sich selbst in der Klassenraumsituation mit anderen Lernenden vergleichen (d) und erhalten Rückmeldungen durch die Lehrkraft. Doch diese Möglichkeiten sind auf Lernsituationen begrenzt, in denen Lehrende und Lernende unmittelbaren Kontakt haben und die Lehrkraft alle Lernenden im Blick haben und individuell beraten kann.
In E-Learning-Situationen wie in MOOCs oder Blended Learning-Situationen in Massenlehrveranstaltungen an Hochschulen ist dies nicht gegeben. Hier können Methoden des Learning Analytics helfen. Daten können beim Lernen mit Lerntechnologien erhoben, aufbereitet und aggregiert werden, um damit das Lernverhalten Lernender und deren Lernerfolg zu analysieren. Die Analyseresultate können in verschiedener Form visualisiert und interaktiv erfahrbar aufbereitet werden.
Lehrende können mithilfe von Learning Analytics eigene Angebote analysieren, optimieren und Studierende besser beraten.
Dies kann (a) Lehrende dabei unterstützen, ihre Lehrangebote zu evaluieren: Wie bzw. wie intensiv und erfolgreich werden z.B. welche Formen von Lernangeboten genutzt? Gibt es Angebote, von denen bestimmte Gruppen von Lernende besonders profitieren? Hypothesen und Studien über Lehrangebote (Action Research) und deren Nutzung und Effekte helfen Lehrenden dabei, mehr über die Lernprozesse mit Lerntechnologien zu erfahren (b). Diese Erfahrungen können genutzt werden, um die Lehrangebote zu optimieren und Lernenden Empfehlungen über deren Nutzung zu geben (c).
Lernende können Learning Analytics nutzen, um mehr über ihr eigenes Lernverhalten zu erfahren und die eigenen Vorgehensweisen und Leistungen mit anderen zu vergleichen
Die Lernenden selbst (d) können ihre Lernstrategien mit denen anderer Lernender vergleichen – dann kann die Lernumgebung auch die Rolle der Lehrkraft spielen. Sie können angeregt werden, ihr Lernverhalten zu reflektieren, insbesondere, wenn kein direkter Kontakt zu Lehrenden und/oder Mitlernenden besteht: Wie stehe ich im Vergleich zu anderen Lernenden? Habe ich mehr, gleich viel oder weniger der Aufgaben bearbeitet oder erfolgreich gelöst? Welche anderen Materialien haben Mitlernende hinzugezogen? Wie erfolgreich waren sie mit diesen Materialien? Wie haben sie diese bewertet? Welche Fragen haben sie gestellt? Auf Basis der Resultate von Learning Analytics können automatisiert Rückmeldungen zum Lernverhalten gegeben sowie Empfehlungen ausgesprochen werden, z.B. mit welchen Lehrangeboten andere (ähnliche) Lernende erfolgreich gelernt haben oder mit welchen anderen Personen es lohnen könnte, sich auszutauschen und gemeinsam zu lernen oder in Form von Peer Assessments wechselseitig die Perspektiven Lehrender und Lernender einzunehmen.
In Bezug auf die Methoden des Learning Analytics sind weitere Forschungen notwendig, insbesondere in Bezug auf Datensparsamkeit, Datensicherheit und Transparenz.
Derzeit sind die Methoden des Learning Analytics noch nicht genügend erforscht, um die skizzierte Vision der Lernunterstützung vollständig leisten zu können. Zu den Forschungsherausforderungen gehören auch Bedenken gegenüber der notwendigen Datensammlung der Lernwerkzeuge. Learning Analytics läuft der gebotenen Datensparsamkeit zuwider. Wie sicher können Daten anonymisiert oder pseudonymisiert verwaltet und die Privatheit der beobachteten Lernenden garantiert werden? Genau wie bei der persönlichen Unterrichtssituation, können die erhobenen Daten neben der oben skizzierten Anwendung zur Lernunterstützung auch zur Leistungsbewertung (sowohl Lernender als auch Lehrender) herangezogen werden. Daher muss jederzeit transparent erfahrbar sein, wer welche Daten zu welchem Zweck auswerten kann und ausgewertet hat. Jede Person muss jederzeit den Überblick haben, welche Daten über sie existieren und welche Analyseergebnisse daraus erwachsen, so dass sie bewusst entscheiden kann, ob sie am Verfahren teilnimmt und die Vorteile der individuellen Lernberatung und -empfehlung nutzt. Sehr wichtig ist es auch, die Interpretation der Analytics-Resultate zu unterstützen und Lehrende und Lernende dafür entsprechend zu qualifizieren.
Gerade in informellen Lernsituationen können Learning Analytics selbstorganisiertes Lernen unterstützen.
Über die hier skizzierten möglichen Anwendungen im formellen Lernkontext hinaus bieten sich für Learning Analytics gerade auch in informellen Lernkontexten Möglichkeiten, Lernen zu unterstützen. Dabei können vor allem Formen des selbst-organisierten, vernetzten und lebensbegleitenden Lernens gefördert werden.
Learning Analytics basiert auf fundierten informatischen Methoden (Statistik, Visualisierung, SNA, Machine Learning, Web/Data Mining, Recommender Systems, Big Data etc.), die auf das Lernen angewandt werden. Obwohl es noch erheblichen Forschungsbedarf gibt, versprechen derzeitige erste Resultate des Learning Analytics, das technologie-basierte Lernen durch individuelle Rückmeldungen einen Schritt voran zu bringen. Daher plädieren wir für die Fortsetzung der Forschung in diesem Bereich.
Prof. Dr. Ulrik Schroeder ist Leiter der “Learning Technologies Research Group” (LuFG Informatik 9) am Fachbereich Computer Science sowie das Center for innovative Learning Technologies (CiL) an der RWTH Aachen. Dr. Mohamed Amine Chatti ist Assistant Professor am Fachbereich Computer Science in der “Learning Technologies Research Group (LuFG Informatik 9) an der RWTH Aachen.
Contra: Drei kritische Thesen
von Dr. Kai-Uwe Loser
Big Data, hier unter dem Mantel von "Learning Analytics", hält vielfältige Heilsversprechen bereit. Doch wie bei vielen anderen technologischen Entwicklungen sind auch in diesem Fall einige ungewollte Folgen zu erwarten. Dieser Kommentar zielt bewusst in diese Richtung. Eine gesellschaftlich erforderliche Abwägung positiver wie negativer Folgen soll hier nicht erfolgen, vielmehr sollen den Protagonisten der Technologie pointierte Gegenargumente entgegengehalten werden, um einen weithin bewussten Umgang zu ermöglichen. Dazu drei Thesen:
1.) Die Sammlung der nötigen Daten ignoriert die grundsätzliche Freiwilligkeit in der Machtkonstellation der Lehre und steht im Widerspruch zum Bildungsauftrag.
E-Learning findet mit Blick auf Datenschutzfragestellungen in einem besonders heiklen Umfeld statt: E-Learning kann gerade im schulischen Kontext nicht losgelöst vom Bildungsauftrag betrachtet werden, der auch die Erziehung zu freiheitlichem und demokratischem Handeln beinhaltet. Auch der gesellschaftliche Auftrag der Hochschulen umfasst die Bildung. Diese Zielvorstellungen sind in vielen didaktischen Szenarien auch in Zielen wie der Förderung von selbstgesteuertem Lernen präsent. Die dem Datenschutz zugrundeliegenden Wertvorstellungen sind in diesem Kontext auch als ein Baustein zu betrachten, Bürgerrechte in der Gesellschaft zu schützen. Initiativen wie Datenschutz geht zur Schule des Berufsverbands der Datenschutzbeauftragten Deutschlands (BvD e.V.) versuchen hier fachlich fundierte Unterstützung anzubieten. Gerade in einer Zeit, in der durch die massenhafte Datensammlung in Verbindung mit machtausübenden Organen und den Einsatz von (Big Data) Analysewerkzeugen in diesem Kontext bereits negative gesellschaftliche Auswirkungen bemerkt werden können – z.B. Unsicherheit über die Beobachtung der Privatsphäre, Sanktionierung außerhalb rechtsstaatlicher Mechanismen –, bricht der Einsatz von Learning Analytics mit diesem gesellschaftlichen Bildungsauftrag. Der Einsatz derselben technologischen Grundlagen und Mechanismen, die inhärent intransparent sind, konterkariert den Bildungsauftrag, im Gegenteil werden Heranwachsende bereits frühzeitig an die Beobachtungssituation gewöhnt. Im Machtgefüge zwischen Lehrenden mit ihrer Sanktionierungsmöglichkeit der Benotung und dem Zwang der Lernenden sich im Lernkontext anzupassen fügt das Sammeln von Daten über die Lernenden noch weitere negativ wirkende Facetten in die Gesamtkonstellation hinzu. Während der einzelne Lernende bei öffentlichen sozialen Medien im persönlichen Kontext zwischen Gleichen durchaus noch eine Teilnahme ablehnen kann, entsteht in Lernsituationen ein faktischer Zwang, etwa zur Nutzung von E-Learning Plattformen, und damit zum sich Ergeben in eine umfassende Beobachtung. Aus Sicht des Lernenden bekommt der Lehrende ein weiteres Instrument in die Hand, in dem sich seine umfassende Kontrollbefugnis manifestiert, und für das weitere Leben erscheinen solche Konstellationen als immanent. Im Kleinen wird so vorgelebt, was im Großen NSA und Co. praktizieren. Einem Vertrauensverhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden kann das nicht zuträglich sein.
2.) Die Zuordnung von Verhaltenswahrscheinlichkeiten in der Lehrsituation begrenzt die Entwicklungschancen von Lernenden.
Die Wirkungen der Analysetechniken sind bereits heute persönlich erfahrbar. Die Produktwerbung großer Internet-Versandhäuser hat eine gewisse Trefferquote, und ihre Empfehlungen werden zunächst als positiv wahrgenommen, weil sie tatsächlich einen Teil der eigenen Interessen widerspiegeln. Andererseits wird man bemerken, dass man sich wortwörtlich in einem Kreis bewegt: Die Empfehlungen und deren Verfolgung führen zu weiteren ähnlichen Angeboten. Ein Ausbrechen aus dieser Blase, ein Entwickeln eigener, neuer Ideen, fällt dann zunehmend schwer. Wer viel Krimis liest, wird durch die Angebote kaum auf andere Ideen gebracht. Dieses Phänomen ist unter dem Begriff des Filter Bubble publiziert, enthält aber auch noch weitere Facetten, wie beispielsweise die intransparente Beeinflussung der Ergebnisse und Hinweise durch wirtschaftliche Interessen. Offenkundig am Beispiel der Internetsuchanfragen, bei denen beeinflusst wird, was an welcher Stelle steht. In Lernkontexten verhindert die Zuordnung von Interessenwahrscheinlichkeiten oder Leistungsfähigkeitseinstufungen die Entwicklungsmöglichkeit eines Lernenden in vergleichbarer Weise. Impulse zu setzen, die Lernenden neue (vielleicht auch unangenehme) interessensferne Gebiete nahe bringen, wird durch den Einsatz von Learning Analytics eher erschwert als gefördert. Die Systeme erkennen Verhaltensmuster, nicht Begabungen, insbesondere Außergewöhnliches wird hier unter den Tisch fallen. Interesseweckendes, motivierendes Neues ist dort für Lernende nicht zu entdecken.
3.) Die Nutzung von Big Data Technologie in der wissenschaftlichen Analyse führt nicht zu neuem Wissen über Lernprozesse, sondern erschafft neue, datenbasiert berechnete, aber wissenschaftlich unvollständig begründete Zusammenhänge.
Die Auswertung großer (unstrukturierter) Datenbanken hat weitreichende Konsequenzen für unser Wissenschaftsverständnis. Die Generierung von begründeten Hypothesen als Grundlage plausibler Weiterentwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis entfällt in weiten Teilen. Die Algorithmik steht im Vordergrund. Clusteranalysen und neuronale Netze erkennen zwar neue vorher unbekannte Zusammenhänge, diese sind aber begründungslos. Während man als menschlicher Akteur immer nach plausiblen Gründen für einen Zusammenhang sucht, sind Clusteranalysen dahingehend neutral. Der Algorithmus stellt fest, dass einer Suchanfrage nach "Enterprise" ein "mathematisches Interesse" zugeordnet wird. Eigentlich liegt in dieser Formulierung bereits eine starke Verkürzung: die sprachliche Illustration macht bereits eine intuitiv verständliche Formulierung nötig – die Analytics Systeme machen keine solche Interpretation. Auf Dauer werden wir aber weder die begründenden Merkmale im Blick haben können noch die entstehenden Gruppen, und sie werden sich damit auch einer Erklärung entziehen. Die Erkenntnis liegt dann allein in der statistischen Auswertung und in der erhöhten Wahrscheinlichkeit eines bestimmten Merkmals bzw. eines Verhaltens. Eine Erklärung dafür, warum das so ist, ist damit nicht mehr möglich, weil wesentliche Bestandteile der wissenschaftlichen Herangehensweise fehlen, etwa die Hypothesengenerierung und die mögliche Dateninterpretation auf der Grundlage intersubjektiv plausibler Erklärungen. Wissenschaft sollte es nicht genügen, festzustellen, dass bei bestimmten Antwortmustern eine Lernschwäche festzustellen ist - etwas dessen Wert an sich vielleicht noch nicht in Frage zu stellen wäre - sondern sie muss sich auch den Gründen widmen, um aktives Handeln und neue Handlungsoptionen zu ermöglichen. Der Begriff Learning Analytics führt hier in die Irre, weil tatsächliche Analyse im Sinne von Verständnisaufbau suggeriert wird - zutreffender wäre hier jedoch der Begriff "Statistical Learning Automaton".
Dr. Kai-Uwe Loser ist Datenschutzbeauftragter der Ruhr-Universität Bochum, berät weitere Hochschulen und ist im Vorstand des Berufsverbands der Datenschutzbeauftragten Deutschlands (BvD) e.V.