Digitalisierungspraktiken und Hochschulbildung – sind wir auf dem richtigen Weg?
Seit etwa 20 Jahren werden zunehmend digitale Medien in der Hochschullehre eingesetzt. Vorangetrieben wird diese Entwicklung sowohl von einzelnen engagierten Lehrpersonen als auch durch Förderprojekte und strukturelle Maßnahmen auf der Ebene von Hochschulen, Ländern oder Bund. Sind wir damit auf dem richtigen Weg? Was meinen die e-teaching.org-Nutzenden? Hier finden Sie einige Antworten. Eine Veranschaulichung der im Folgenden vorgestellten Ergebnisse sowie die themenspezifischen Aussagen finden Sie in der über den Dienst Slideshare eingebetteten Präsentation.
Zum Thema „Digitalisierungspraktiken und Hochschulbildung – sind wir auf dem richtigen Weg?“ gab eine Mehrheit der Teilnehmenden an, auf dem aktuellen Stand der Diskussionen zu sein: Auf einer Antwortskala von 1.00 bis 6.00 (die theoretische Skalenmitte liegt bei 3.50) skalierten 71.8% der Befragten den eigenen Wissensstand mittels stufenlosem Schieberegler auf Werte größer als 4.00 (Werte von über 5.00 wurden von immerhin noch 44.9% aller Befragten ausgewählt). Im Durchschnitt schätzen die Befragten das eigene Wissen zum Thema somit als eher hoch ein (Mittelwert: M = 4.29, Standardabweichung: SD = 1.37, Anzahl Antworten n = 78).
Etwas weniger eindeutig verteilen sich die Antworten hinsichtlich der Frage, ob Digitalisierungspraktiken und -projekte an den Hochschulen in ihrer jetzigen Form beibehalten und weiter forciert werden sollten. Auf der Antwortskala von 1 bis 6 bejahten dies 50.6% der Befragten mit der Vergabe von Werten größer als 4, während immerhin 34.2% der Befragten Werte von 1 bis einschließlich 3 auswählten (15.2% entschieden sich für Werte größer als 3 bis einschließlich 4 im Mittelfeld der Skala). Obwohl etwas mehr als die Hälfte der Befragten somit der Meinung war, dass die jetzigen Digitalisierungspraktiken und -strategien beibehalten bzw. weiter forciert werden sollten, war ein nicht zu unterschätzender Teil der Befragten diesbezüglich anderer Meinung (M = 3.75, SD = 1.27, n = 79).
In gewisser Weise passen dazu die Bewertungen der Aussage, dass es aufgrund der heterogenen Hochschullandschaft, verschiedener Disziplinen und Zielgruppen eben nicht „den einen einzig richtigen Weg“ geben könne. Fast alle Befragten (98.5%) fanden diese Aussage überzeugend und vergaben für die Beurteilung der Überzeugungsstärke Werte, die größer als 4 waren (M = 5.36, SD = 0.69, n = 67). Als überzeugend wurde auch die Aussage eingestuft, dass Digitale Bildungsressourcen und die damit verbundene Flexibilität hinsichtlich Zeit, Ort und Dauer von Lernprozessen den unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten der (zunehmend nichttraditionellen) Studierenden entgegenkomme (M = 4.56, SD = 1.34, n = 67). Auch eine Aussage über die Etablierung von Anreizsystemen zur Unterstützung von Digitalisierungspraktiken (beispielsweise die Anrechenbarkeit auf das Lehrdeputat) wurde insgesamt als einigermaßen überzeugend eingestuft (M = 4.01, SD = 1.33, n = 64).
Deutlich geteilte Meinungen gab es hingegen bei der Bewertung der Aussage, dass inzwischen fast alle Hochschulen über Beratungs- und Servicezentren verfügen würden, um die Beteiligten im Kontext von Digitalisierungspraktiken optimal zu begleiten. Während 46.9% der Befragten Bewertungen größer als 4 vergaben und sich 10.9% für das Mittelfeld (größer als 3 bis einschließlich 4) entschieden, wählten immerhin 42.2% der Befragten Werte von 1 bis einschließlich 3 (M = 3.46, SD = 1.24, n = 64). Die Verschiedenheit der Meinungen zeigte sich auch bei der Bewertung der Aussage, dass die Landes- und Bundespolitik die Wichtigkeit der finanziellen Förderung von Digitalisierungsprozessen an Hochschulen erkannt habe und Innovationen sowie Kooperationen fördert und einfordert (M = 3.28, SD = 1.09, n = 58). Ähnliches gilt auch für eine Aussage zu Top-Down-Vorgaben im Kontext von Digitalisierungsstrategien und einer von manchen befürchteten Einschränkung der Freiheit der Lehre (M = 3.44, SD = 1.32, n = 61).
Als vergleichsweise wenig überzeugend wurde von der Mehrheit der Befragten die Aussage eingeschätzt, dass die Hochschulen im Hinblick auf die technologischen Rahmenbedingungen auf dem richtigen Weg seien und die technische Infrastruktur nicht als besonderes Problem wahrgenommen werde. Die meisten Befragten (68.3%) vergaben hierzu nur Bewertungen von 1 bis einschließlich 3 (M = 2.86, SD = 1.18, n = 63).
Vergleichsweise hohe Bewertungen erhielten demgegenüber fünf tendenziell eher kritische Aussagen. In einer dieser Aussagen wurden beispielsweise technologiegetriebene Digitalisierungspraktiken thematisiert, bei denen didaktische und pädagogische Erwägungen eine nur untergeordnete Rolle spielen würden (M = 4.47, SD = 1.38, n = 66). Ebenfalls hohe Bewertungen erhielt eine Aussage über die Wichtigkeit von Anreizsystemen und diesbezügliche deputatsrechtliche Hürden bei der Anerkennung digitaler Lehre (M = 4.76, SD = 1.10, n = 61). Auch der Hinweis auf das Fehlen einer grundsätzlichen Debatte über die zukünftige Rolle der Hochschulen und die damit verbundenen Bildungsbegriffe und -ziele wurde von der Mehrheit der Befragten als überzeugend eingestuft (M = 4.77, SD = 1.12, n = 68).
Die anderen beiden eher kritischen Aussagen mit vergleichsweise hohen Bewertungen thematisierten einerseits eventuelle Vorbehalte, Berührungsängste und mögliche Weiterbildungsbedarfe auf Seiten der Lehrenden (M = 4.91, SD = 1.03, n = 67) und andererseits die Notwendigkeit einer langfristigen und verlässlichen finanziellen Förderung von Digitalisierungsprozessen einschließlich der Problematik einer zumeist unzureichenden Grundfinanzierung der Hochschulen (M = 5.08, SD = 1.05, n = 66). Die letztgenannte Aussage bewerteten 65.2% der Befragten mit Werten größer als 5 und 21.2% der Befragten mit Werten größer als 4 bis einschließlich 5. Hierzu ist erwähnenswert, dass in der Umfrage auch die Zustimmung zu einer Aussage erfragt wurde, wonach die derzeitigen strukturellen und finanziellen Rahmenbedingungen für eine Digitalisierung der Hochschulbildung optimal seien. Die Mehrheit der Befragten stimmte dieser Aussage nicht zu: Auf der entsprechenden Skala von 1 bis 6 entschieden sich 84.6% der Befragten für Zustimmungswerte von 1 bis einschließlich 3 (M = 2.26, SD = 1.20, n = 78).
In den optionalen Freitext-Kommentaren der Umfrageteilnehmenden wurden ressourcenbezogene Aspekte ebenfalls thematisiert. So würde beispielsweise „häufig vergessen, dass digitale Produkte (insbesondere auch elektronische Aufgaben) gepflegt werden müssen“ und „die dafür notwendigen (finanziellen und personellen) Ressourcen müssten dauerhaft eingeplant werden“. Letztlich werde und könne die Digitalisierung der Hochschulen „von Natur aus nur halbherzig umgesetzt werden, wenn man glaubt, dabei Lehrpersonal (welches an einigen Standorten schon fast regelmäßig Überlast fährt, da Stellen aus Haushaltsgründen nicht neu besetzt werden) einsparen zu können“. Vermerkt wurde außerdem, dass Service und Beratung zwar vielerorts existieren würden, aber „meist strukturell und finanziell schlecht abgesichert“ seien. Und eine „rein projektorientierte Drittmittelfinanzierung“ bringe „zwar punktuelle Fortschritte, reicht aber nicht aus“. Ferner sei es wünschenswert, „dass Strukturen geschaffen werden, wo Dozenten länderübergreifend zusammenarbeiten bzw. ihre Erfahrungen austauschen können“. Dazu gehöre „natürlich auch die Möglichkeit, alle digitalen Produkte (die aus öffentlichen Mitteln finanziert wurden und somit auch allen verfügbar gemacht werden sollten) auszutesten“, denn diesbezügliche Barrieren seien „eindeutig noch zu hoch!“.
Im Hinblick auf die Lehrenden und unter Verweis auf langjährige Praxiserfahrung wird in einem Kommentar vermerkt, dass sich „als wichtigster Anreiz Unterstützung und Support herausgestellt“ hätten, denn mit entsprechenden Angeboten und Anlaufstellen „steigt die Akzeptanz“. Von einer/einem anderen Befragten wurde jedoch daraufhin hingewiesen, dass pauschale Aussagen über Berührungsängste und Vorbehalte nicht berücksichtigen würden, dass die Umsetzung von Digitalisierungsstrategien für Einzelne bzw. in manchen Fällen möglicherweise „keinen Sinn“ mache. Es müsse somit immer auch die jeweilige Sinnhaftigkeit der Umsetzung berücksichtigt werden. In diesem Kontext wird in einem anderen Kommentar auf einen „technical lag“ hingewiesen, denn „jede Generation von neuen Lehrenden bildet sich fachlich weiter fort, lehrt aber mit den Mitteln, mit denen sie selbst gelernt hat“. Alles in allem würden die „vorhandenen technischen Möglichkeiten“ nicht ausgeschöpft und es würde „stattdessen von e-Prüfungszentren geträumt“, um „bei lästigen & langweiligen multiple choice Prüfungen Zeit und Nerven zu sparen“. Zudem werde „Das Digitale“ nur zu gern an studentische Hilfskräfte delegiert, die „sich meist inhaltlich nicht genug auskennen, um starkes Interesse bei den Teilnehmer*innen zu generieren“.
Insgesamt sei es notwendig, einen „radikalen Bruch im Verständnis der Lehr/Lern- und Arbeitskulturen“ zu vollziehen, sodass „mehr Wert auf die Lehre gelegt“ und Weiterbildungsbereitschaft geschaffen werde. Zudem müsse es auch „zeitlichen Raum dafür geben“ und wir müssten „weg von der reinen Expert*innen-Kultur (fachlich: ja, technisch: vielleicht) und hin zu einem Prozess der Ko-Produktion/Mitgestaltung der Lehre durch die Studierenden“. Es wird aber auch darauf hingewiesen, dass ebendiese Studierenden von den Lehrenden „erstaunlicherweise auch nicht mehr als ‚Folien bereitstellen & für WLAN im Hörsaal sorgen“ erwarten würden.
Generell vermerkt wurde, dass „Fragen zur kritischen, gestaltenden Auseinandersetzung mit Digitalisierung“ zu „wenig inter- und transdisziplinär aufgegriffen“ würden. Es sei wichtig, „die Frage nach sich ändernden Zielen, Kompetenzen, Mindsets, Grundlagen (ggf auch anthropologischen, politischen etc) in allen Disziplinen zu reflektieren“. Und die Digitalisierung an sich sei vor allem eines: „ein schneller Prozess, der damit im Widerspruch zu Bildungs- und Forschungsaktivitäten steht und zwar grundsätzlich, da beides immer Zeit benötigt“. In jedem Fall aber, so ein weiterer Kommentar, sei „eine klare Hochschulstrategie essentiell notwendig, um die benötigten Ressourcen für eine nachhaltige Entwicklung der Hochschule zu gewährleisten“.
Methoden
In unserer Meinungsrubrik gab es die Möglichkeit, verschiedene Pro- und Contra-Argumente zu den Themen MOOCs, Mobiles Lernen, Learning Analytics, Vorlesungsaufzeichnungen, Open Educational Resources (OER), Lernmanagement-Systeme (LMS), digitale Bildungsressourcen (DBR) und Heterogenität im Studium zu betrachten, zu bewerten und Fragen zu diesen Themen zu beantworten.
Die vorliegende Umfrage zum Thema „Digitalisierungspraktiken und Hochschulbildung – sind wir auf dem richtigen Weg?“ im Kontext des gleichnamigen Themenspecials ist eine Fortsetzung dieser Umfragen aus der Meinungsrubrik. Die Durchführung erfolgte vom 6. Mai 2019 bis zum 30. September 2019. Wir bedanken uns noch einmal bei allen Teilnehmenden für das große Interesse und die Bereitschaft zum Mitmachen!
Insgesamt haben n = 84 Personen mindestens eines der Items beantwortet. Die maximale Anzahl der auswertbaren Antworten pro Fragebogenitem liegt bei n = 82. Vielen Items wurden jedoch von weniger Teilnehmenden beantwortet.
In den Präsentationsfolien werden zunächst die Antwortmuster (a) zu einem eher wissensbezogenen Item und (b) zu zwei eher meinungsbezogenen Items grafisch veranschaulicht. Danach folgen Ergebnisse zu den Bewertungen der Überzeugungsstärke von 12 themenspezifischen und bewertenden Aussagen. Die Zustimmung zu den ersten drei exemplarisch dargestellten Items konnte auf einer Skala von 1 (Stimmt überhaupt nicht) bis 6 (Stimmt voll und ganz) mittels stufenlosem Schieberegler angegeben werden. Die Bewertung der Überzeugungsstärke der 12 Aussagen bzw. Argumente erfolgte ebenfalls mittels stufenlosem Schieberegler auf einer Skala von 1 (Überhaupt nicht überzeugend) bis 6 (Sehr stark überzeugend). Zur Veranschaulichung wurden die itemspezifischen Antwortwerte in Kategorien (bzw. Klassen) zusammengefasst.
Statt der bisher verwendeten Pro- und Contra-Argumente wurden in dieser Umfrage Aussagen präsentiert, die als tendenziell eher bejahende oder als tendenziell eher verneinende Antworten auf die Hauptfrage des Themenspecials fungierten, also als Antworten (bzw. deren Begründungen) auf die Frage: „Sind wir auf dem richtigen Weg?". Bei einzelnen Befragten hat dies zu Irritationen geführt, nämlich einerseits in Bezug auf den damit fast zwangsläufig verbundenen und durchaus beabsichtigten bewertenden Charakter der präsentierten Aussagen und andererseits hinsichtlich der Bewertungsdimension Überzeugungsstärke, insbesondere bei facettenreichen Unterthemen bzw. Aussagen.
In Bezug auf inhaltliche Aspekte konnte diese Umfrage freilich nur einen Ausschnitt aus der Vielfalt wichtiger Unterthemen und Diskussionspunkte widerspiegeln. Umso mehr freuen wir uns, dass einige Teilnehmende von der Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, Aspekte und Fragen zu vermerken, die ihnen über die in der Umfrage thematisierten hinaus als wichtig erscheinen. Hervorzuheben sind an dieser Stelle vor allem die Frage, „was von all den ‚Digitalisierungsmaßnahmen‘ denn eigentlich bei den Studierenden ankommt“ und die Frage, ob „die Qualität der Lehre oder von Lernprozessen“ tatsächlich durch den „Einsatz digitaler Medien“ erhöht werde.
Wir sind uns bewusst, dass unsere Umfragen „alleine durch die Teilnahme meist interessierter Personen im Bereich E-Learning wohl beeinflusst sein“ könnte und „TeilnehmerInnen, die über e-teaching.org auf die Umfrage aufmerksam werden, bereits eine bestimmt (positive) Einstellung gegenüber Digitaler Lehre haben“, wie Teilnehmende unserer Umfragen korrekt angemerkt haben. Unter anderem deshalb wurden beispielsweise zu den Themen Mobiles Lernen, MOOCs und digitale Bildungsressourcen (DBR) auch Befragungen unter Studierenden durchgeführt, deren Ergebnisse denen der e-teaching.org-Nutzenden gegenübergestellt wurden.
Verantwortlicher Wissenschaftler: Dr. Jens Jirschitzka (Dipl.-Psych.). Bei Fragen oder Anregungen wenden Sie sich bitte an: j.jirschitzka@iwm-tuebingen.de oder feedback@e-teaching.org.